Herr Widmer, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von dem Attentat auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» erfahren haben?
Ruedi Widmer: Ich bin erschrocken, und ich bin auch jetzt noch sehr bestürzt. Aber: Völlig unerwartet kam es für mich nicht.
Warum mussten die Journalisten von «Charlie Hebdo» mit einem solchen Anschlag rechnen?
Ich kannte die Zeitschrift bis am 7. Januar, dem Tag des Attentats, nur flüchtig. Aber wenn man sich die Vorgeschichte des Blattes anschaut – den Brandanschlag nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung «Jyllands-Posten», Polizeischutz, die Kolportationen, dass es sich bei «Charlie Hebdo» um eine antiislamische Zeitschrift handle ...
Was angesichts der Geschichte des Blattes offensichtlich falsch ist ...
Genau, «Charlie Hebdo» machte sich über alle lustig, die katholische Kirche, das Judentum, Angela Merkel, Nicolas Sarkozy, Marine Le Pen. Aber die Karikaturen der «Jyllands-Posten», die «Charlie Hebdo» damals abdruckte, die waren für mich von einer anderen Qualität. Sie waren nicht lustig.
Können Sie das genauer erklären?
«Jyllands-Posten» ist eine dänische Tageszeitung, keine Satirezeitschrift. Die Mohammed-Karikaturen, die damals abgedruckt wurden, hatten – mit wenigen Ausnahmen – keinen Witz, waren keine Satire, sondern Schmähzeichnungen, die die Handschrift missionarischer Eiferer trugen. Das weckte bei mir Erinnerungen an die Figur des Ewigen Juden, die von Antisemiten zu allen Zeiten zur Verunglimpfung der Juden gebraucht wurde.
Muss Satire immer gegen die Mächtigen gerichtet sein?
Ja, gegen Mächtige, nicht gegen Machtlose. Im Visier der Satire müssen Machtinstitutionen sein: Die Kirche zum Beispiel, Politiker, Konzerne – oder der IS.
Welche Aufgaben hat die Satire, welchen Zweck erfüllt sie? Hat sie überhaupt einen Zweck?
Wer ein grosses Maul hat, der darf kritisiert werden – ich denke an den selbsternannten Kalifen al-Baghdadi. Aber das reicht nicht aus. Satire hat für mich eine weitere notwendige Bedingung: Sie muss lustig sein. Weder plump noch ausschliesslich verletzend, sondern lustig in dem Sinne, dass mit Ironie – auch Selbstironie – gespielt und eine neue Sichtweise herausgeschält wird. Deshalb ist für mich Mohammed, der anstatt eines Turbans eine Bombe auf dem Kopf trägt, keine Satire. Und: Satire ist der Aufklärung verpflichtet.
Im Nachgang zum Anschlag dominierte – zumindest in der westlichen Welt – eine Forderung: Hochhaltung der Meinungsfreiheit.
Ja, und das ist wichtig. Was mich aber dabei irritiert, ist, dass die Meinungsfreiheit von rechter Seite praktisch ausschliesslich im Zusammenhang mit dem Islam gefordert wird, und dass es dann heisst: «Man wird das ja wohl noch sagen dürfen.»
Da wird – wie so oft bei solchen Ereignissen – politische Instrumentalisierung auf ganz tiefem Niveau betrieben.
Aber die Journalisten von «Charlie Hebdo» waren doch vehemente Verfechter der Meinungsfreiheit? Und dass sie mit ihren Karikaturen und satirischen Beiträgen, die sich gegen den Islam richteten, Beifall von der falschen Seite bekommen haben – von konservativen Islamhassern zum Beispiel –, war ihnen auch klar.
Das war ihnen wohl bewusst, und dagegen kann man sich kaum wehren. Ich denke, man darf nicht vergessen, dass Satiriker – ihrem Ethos gemäss – keine politischen Akteure sein sollten. Es liegt nicht an den Satirikern, Politik zu betreiben, sondern diese auf ironische Art und Weise zu kommentieren. Eine Ausnahme ist selbstverständlich die deutsche PARTEI.
Wird sich die Arbeit der Satiriker nach den Vorkommnissen in Frankreich verändern?
Ich glaube nicht. Die einzige Veränderung, die ich bis jetzt festgestellt habe, ist, dass das Interesse an unserer Arbeit schlagartig zugenommen hat. Wir sind plötzlich berühmt – ich hoffe, das geht wieder vorbei.
Die Frage, die sich nach den Ereignissen in Paris stellt: Wie ist es möglich, dass Zeichnungen einen derartigen Hass auslösen können, dass Menschen mit der Waffe in der Hand Rache üben?
Ein Erklärungsversuch wäre: Das Internet, Social Media, die allumfassende und omnipräsente Datenwolke führen dazu, dass Karikaturen wie diejenigen des «Charlie Hebdo» Leute erreichen, die sich weit ausserhalb der gewöhnlichen Leserschaft befinden.
Wer auf Facebook per Zufall auf eine solche Zeichnung stösst, kann diese unter Umständen nicht entschlüsseln.
Das erklärt aber noch nicht, warum man anschliessend zur Waffe greift und zwölf Menschen erschiesst.
Ja, diese Tat ist unfassbar.
Spielt es auch eine Rolle, wer der Urheber der Karikaturen ist?
Ich denke schon. Man sollte als Karikaturist mit der Thematik nicht nur oberflächlich vertraut sein. Ich selber nehme lieber Sachen aufs Korn, die ich kenne. Wenn ich einen Cartoon über die amerikanische Innenpolitik zeichne, dann ist der Erkenntnisgewinn gleich null.
Was werden die Folgen des Anschlags sein: Auftrieb für den Front National und andere kulturkämpferische und islamophobe Parteien und Organisationen?
Ich bin kein Politiker, ich weiss nicht, wie gross das Reservoir ist, aber es würde mich doch sehr wundern, wenn Marine Le Pen bei der nächsten Präsidentschaftswahl nicht ganz oben stehen würde ...
Haben die Terroristen ihr Ziel erreicht?
Ja, wir geben die Werte auf, die wir angeblich verteidigen, vielleicht langsam und schleichend, aber unaufhaltsam. Die USA, 9/11, Patriot Act, das alles wird wohl auch auf uns zukommen.