Vergangenen Donnerstagabend, so früh wie nie, haben die Redakteure sich auf das nächste Titelbild geeinigt. Die neue Ausgabe von Charlie Hebdo zeigt eine Karikatur des muslimischen Propheten Mohammed. Er schaut betrübt und hält ein Schild «Je suis Charlie», darüber die Aussage «Alles ist vergeben». Genauso doppeldeutig das neue Logo: «Charlie Hebdo – verantwortungsloses Magazin».
Die neue Charlie-Ausgabe entstand in einem Konferenzraum der linksliberalen Tageszeitung «Libération». Die Computer dafür hatte die Zeitung «Le Monde» zur Verfügung gestellt.
Der Anschlag auf die Satirezeitschrift hat eine weltweite Welle der Solidarität ausgelöst. Eine Flut von Gastbeiträgen ging bei der Redaktion ein. Doch das am Mittwoch erscheinende Heft enthält ausschliesslich eigene Texte und Zeichnungen. «Wir wollten eine Ausgabe machen, die wirklich uns gehört», sagt die Redakteurin Zineb El Rhazoui. Zusammen mit etwa 15 Kollegen hat sie das neue Heft produziert.
Die 32-Jährige war zum Zeitpunkt des Anschlags für eine Recherche in Marokko und entkam dadurch der Attacke. Acht Mitglieder der Redaktion, darunter die vier bekanntesten Zeichner, wurden von den Attentätern ermordet. Vier Redakteure wurden schwer verletzt, manche sind noch im Krankenhaus.
Zineb El Rhazoui arbeitet seit 2011 als Redakteurin bei «Charlie Hebdo». Der beim Anschlag getötete Herausgeber Stéphane Charbonnier, «Charb», hatte sie persönlich rekrutiert, mitten im Arabischen Frühling. Er sah die französisch-marokkanische Doppelstaatsbürgerin als Gleichgesinnte: Sie engagierte sich in Marokko für Freiheitsrechte und legte sich mit den Islamisten und dem Königshaus an. Als Reporterin für «Charlie» erhielt sie immer wieder Morddrohungen.
Ihre Stimme bricht während des Gesprächs. Sie will es auf keinen Fall abbrechen, auch wenn es ihr unvorstellbare Kraft abverlangt. «Wir haben die Zuversicht verloren, das Vertrauen ins Leben», sagt El Rhazoui. «Aber wir machen weiter. Wir können nicht zulassen, dass sie umsonst gestorben sind.»
Die internationale Anteilnahme ermutigt die Redaktion. «Es hat uns Kraft gegeben, dass uns so viele unterstützen und in der ganzen Welt auf die Strasse gegangen sind», sagt El Rhazoui. «Es half auch, dass wir alle zusammen waren und gemeinsam das Heft gemacht haben. Zusammen können wir lachen».
Für die Betroffenen hält der Schrecken einer solchen Tat lange an. Die Überlebenden werden oft von Schuldgefühlen geplagt: Warum hat es nicht mich getroffen? Warum die anderen?
Das Attentat hat nicht nur das Leben der Redakteure verändert. Auch die Zeitschrift ist nun eine andere: Das Blatt ist zum Emblem geworden. Für keine Redaktion wäre so etwas einfach, doch erst recht nicht für eine, die es sich zur Mission gemacht hat, sämtliche Symbole zu zerlegen. Die «Charlie Hebdo»-Redakteure hätten darüber gesprochen, erzählt El Rhazoui. Das neue Heft nimmt manche der vermeintlichen neuen Freunde aufs Korn.
Der Anschlag hat der Satirezeitschrift seltsame Solidaritätserklärungen beigebracht. In Frankreich wird das Magazin von der politischen Rechten gefeiert. Auf der Gedenkfeier am Sonntag in Paris zeigten sich dutzende Staatschefs, die in ihren eigenen Ländern die Meinungsfreiheit brutal unterdrücken. In Deutschland wollte die Anti-Islam-Bewegung Pegida das Heft für sich vereinnahmen – zum Ärger der Redaktion. «Die haben sich alle für ihre eigenen Interessen eingeschaltet», sagt Zineb El Rhazoui. «Wir werden niemals glauben, dass das unsere Freunde sind.»
Frankreichs Kioske rechnen für Mittwoch mit einem Ansturm. Viele nahmen Vorbestellungen für das Heft an – bis Dienstagmittag, dann waren bei vielen die erwarteten Exemplare ausgebucht. Ab Donnerstag soll Nachschub kommen. Insgesamt sollen drei Millionen Hefte gedruckt werden, so gross ist die Nachfrage.
Vor dem Attentat hatte «Charlie Hebdo» im Durchschnitt eine Auflage von 50'000 Exemplaren. Nur besonders umstrittene Hefte wie die sogenannte Scharia-Ausgabe 2011 nach dem Brandanschlag auf die Redaktion wurden mit höherer Auflage gedruckt.
Damit die Grossaktion gelingt, wollen die zwei Unternehmen, die «Charlie Hebdo» ausliefern, die erste Million kostenlos austragen. Gleichzeitig gehen viele Spenden ein: Die Redaktion bekommt 200'000 Euro aus einem Fonds der französischen Presse, 250'000 Euro von einer Google-finanzierten Stiftung und 128'000 Euro von der britischen Zeitung «The Guardian». Im Internet läuft eine Spendenaktion, bei der bis Dienstagmittag knapp 145'000 Euro zusammengekommen waren. Frankreichs Regierung hat «Charlie Hebdo» eine Million Euro in Aussicht gestellt, die französische Post will den Redakteuren ein Jahr ihr Porto bezahlen.
Solche Spendenankündigungen stellen eine unabhängige Zeitschrift vor ein Dilemma. Noch hatten die Redakteure keine Zeit, um darüber zu diskutieren. Aber über die Nachricht vom kostenlosen Porto wurde prompt gespottet, sagt El Rhazoui. Denn der ermordete Karikaturist «Tignous» war dafür bekannt, seine Privatpost auf «Charlie Hebdo»-Kosten zu frankieren. «Mist, dass er das nicht mehr erlebt hat», rief einer. Im nächsten Moment stiegen ihnen wieder die Tränen in die Augen.
Eigentlich stand «Charlie Hebdo» kurz vor der Pleite. Das Heft fand nur wenige Leser. Nicht wegen der umstrittenen Themen. Viele Franzosen fanden den häufig platten Fäkalhumor schlicht nicht lustig. Doch nun könnte der Anschlag, der die Zeitschrift vernichten sollte, ihr dabei helfen, wieder aufzuerstehen.
«Der Preis, den wir dafür bezahlen, ist sehr, sehr hoch, zu hoch», sagt El Rhazoui. «Journalisten haben ihr Blut für Pressefreiheit vergossen. Für das Recht zu sagen, was man will, ohne Kompromisse. Für das Recht, ein Magazin zu machen, das anders ist – wir waren nie Mainstream – und für das Recht zu lachen.»