Ist das Internet ein Segen oder eine Plage? Verbindet es Menschen und versorgt sie mit Wissen, an das sie sonst nicht herankommen würden, oder ist es eine wohlfeile Möglichkeit, andere mit Hass einzudecken und sich selbst in einer Filterblase zu verstecken?
Mittlerweile wissen wir, dass es für die Gesellschaft natürlich beides ist. Wobei wir die negativen Seiten dieser technologischen Entwicklung jetzt eher bejammern.
Ähnlich, wenn auch weniger drastisch, liegt der Fall in der Politik. Massenproteste, wie sie sich in letzter Zeit häufen, wären ohne die Möglichkeiten des Internet und der damit verbundenen Kommunikationskanäle nicht möglich. Das hören wir besonders seit dem sogenannten Arabischen Frühling. Andererseits liest man immer wieder, dass autoritäre Regimes, besonders China oder die Mullahs im Iran, das Internet kontrollieren und seine Nutzung einschränken, so gut sie können.
Professor Nils Weidmann vom Exzellenzcluster «The Politics of Inequality» der Universität Konstanz und der Nachwuchsforscher Dr. Espen Geelmuyden Rød von der Universität Uppsala wollten der Sache auf den Grund gehen: «Bis vor wenigen Jahren gab es zwei Lager in der Wissenschaft: Für die einen war das Internet ein mächtiges Befreiungswerkzeug, andere hielten es dagegen für eine Unterdrückungstechnologie. Über diese zu einfache Unterscheidung wollten wir hinausgehen.» Ihre Maxime: Genauer hinschauen.
Um präziser zu sehen, wie Internetdichte und Protest zusammenhängen, muss man auf die lokale Ebene der tatsächlichen Ereignisse heruntergehen. Wie beeinflusst die Internetanbindung die Häufigkeit und die Dauer von Protesten? Wie reagieren autokratische Regimes auf die Proteste? Und wie wirkt sich das auf die politischen Bewegungen dahinter aus? In den letzten fünf Jahren bauten die beiden Forscher eine Datenbank auf, die der Wissenschaft zur freien Verfügung steht («Mass Mobilization in Autocracies»).
Die Ergebnisse haben sie in einem Buch zusammengefasst, das im Verlag Oxford University Press erscheinen wird. Dass das Internet autokratische Regimes bei der Unterdrückung sozialer Bewegungen unterstützen kann und dass es aber auch Massen-Protestbewegungen auslösen kann, daran konnten die Ergebnisse nichts ändern.
«Insgesamt kann man sagen, dass die Einführung und Ausbreitung von digitalen Technologien für autokratische Gesellschaften ein zweischneidiges Schwert ist», fasst Weidmann seine und Røds Ergebnisse zusammen. «Das Internet wird in vielen Autokratien eindeutig als Repressionswerkzeug eingesetzt. Es kann unter passenden Umständen aber auch zum Befreiungswerkzeug werden.»
Autokratische Regimes befinden sich in einer komfortablen Situation, wenn sie den Auf- und Ausbau der Technologie kontrollieren können. Das gibt ihnen neue Mittel für Überwachung und Zensur. Eine höhere Internetdurchdringung kann das Auftreten von Protesten langfristig reduzieren. Wenn die Protestbewegungen aber die Repressionsmassnahmen einmal unterlaufen haben, gewinnen sie schneller an Fahrt und verbreiten sich weiter.
(aargauerzeitung.ch)