Das ganze Weltall auf einem Handydisplay. Dieses Kunststück war viele Jahre lang die Kernkompetenz von «Fishlabs», den Schöpfern der «Galaxy on Fire»-Reihe. Gewissermassen war das eine Fingerübung für das jetzt erschienene Raumschiffepos «Chorus», für das die Hamburger zusätzlich einige Spezialisten angeheuert haben. Ausgestattet mit der Möglichkeit, sich endlich auf ganz grossen 4K-Panels auszutoben, entfesseln sie ein bildgewaltiges Effektgewitter, das Vergleiche mit Genrehighlights wie «Freelancer» oder «Everspace» nicht scheuen muss. Ein AAA-Titel ist «Chorus», das zum Preis von rund 40 Franken für PC und aktuelle Konsolen erhältlich ist, allerdings nicht. Denn dazu fehlt bei aller die Heldin Nara umgebenden Unendlichkeit letztlich die spielerische Komplexität.
Was aber beileibe kein Nachteil sein muss. Denn «Chorus» setzt stattdessen auf eine angesichts der um sich greifenden Open-World-Unübersichtlichkeit wohltuende Geradlinigkeit bei Steuerung und Story. Pilotin Nara, in deren Haut und Schiff wir schlüpfen dürfen, ist ein ehemaliges Mitglied einer sinisteren Weltraumsekte namens «Circle», die sie zu verheerenden Verbrechen verleitet hat. Angetrieben von ihrem schlechten Gewissen, wendet sie sich gegen ihre ehemaligen Verbündeten und macht sich auf, mal eben kurz das Weltall zu retten. Dabei steht ihr der intelligente Starfighter «Forsaken» zur Seite, den wir als Lohn für vollbrachte Heldinnentaten nach und nach mit allerlei technischem Schnickschnack und Spezialfähigkeiten, den «Ritualen», ausstatten dürfen.
«Die Geschichte ist mit der menschlichen Kernerfahrung von Selbstbetrug und Selbstverdammung verbunden», erklärt Creative Director Marek Berka. «Nara durchlebt all das und sie findet ihren Weg, indem sie sich selbst wiederentdeckt und Bindungen wiederherstellt, die sie in der Vergangenheit abgebrochen hat. Wir wollten zeigen, dass es für Menschen, die in ihrem Leben etwas Ähnliches durchmachen, äusserst interessant und inspirierend sein kann, sich ihrer dunklen Seite zu stellen.» Der Fokus liegt dabei auf dem inneren Monolog der Pilotin und den Kommentaren ihres «denkenden» Raumschiffs. Das gelingt in der englischen Sprachversion – es gibt keine Synchro, nur deutsche Untertitel – so virtuos, dass man die Szenen ausserhalb des Schiffes keine Sekunde vermisst. Die markante Stimme der britischen Schauspielerin Cassie Bradley, die unter anderem schon in «Assassin’s Creed: Valhalla» zu hören war, lässt an den Sprechgesang von Anne Clarke («Our Darkness», «Sleeper in Metropolis») denken und jagt einem ein ums andere Mal eine Gänsehaut über den Rücken.
Doch natürlich geht es in «Chorus» primär um das Rasen durch unendliche Weiten und spektakuläre Dogfights rund um Planeten und Raumstationen. Mit dem rechten Stick gibt man die Richtung vor, während man mit dem linken beschleunigen, abbremsen und Rollmanöver durchführen kann. Mit den Schultertasten lässt man die extrem wendige «Forsaken» blitzartig nach vorne schnellen, grössere Entfernungen werden mittels Hyperbeschleunigung und Warptoren überwunden. Das fühlt sich lediglich am Anfang etwas ungewohnt an und geht schnell in Fleisch und Blut über. Später hinzugeschaltete «Rituale» sorgen für diverse zusätzliche Kampfmanöver. Über die Pfeiltasten wechselt man zwischen drei Waffenslots, die Waffen selbst bekommen bei intensiver Nutzung Upgrades. Das alles ist also schön übersichtlich und unkompliziert, was für viel unmittelbaren Spass in den Gefechten sorgt. Diese sind durchaus anspruchsvoll und können sich mitunter hinziehen. Der Schlüssel liegt meist in der richtigen Kombination aus «Ritualen» und Waffen.
Beim richtigen Grad an Immersion standen die Entwickler bei «Fishlabs» vor Herausforderungen, mit denen sich wohl jeder konfrontiert sieht, den es beim Gamedesign ins All zieht: «Wir wollten nicht in einer generischen Weltraumumgebung enden, aber gleichzeitig findet alles eben dort statt – im Weltraum. Also haben wir viel an den charakteristischen Strukturen aller Orte gearbeitet, jede Menge Einzelkunstwerke geschaffen und immer wieder die Art und Weise verfeinert, wie wir die Grössenverhältnisse spürbar machen. Das ist im Weltraum meist sehr schwierig, ebenso wie die Erzeugung eines Tempogefühls, da das menschliche Auge Anhaltspunkte dafür braucht, die im leeren Raum eben meist fehlen.»
Wichtig für den Gesamteindruck sind auch Musik und Sounddesign, die laut Berka 50 Prozent der Atmosphäre ausmachen. «Um unserer Vision ein solides Fundament zu geben und eine einzigartige Aura zu erschaffen, haben wir endlos mit unserem Audio Director Phil Muckenfuss diskutiert und sind dabei bis in mystische und schamanische Sphären vorgedrungen.» Gemeinsam mit dem portugiesischen Komponisten Pedro Camacho, der auch für «World of Warcraft: Shadowlands» und «Star Citizen» passende Klangteppiche beisteuerte, fand man das sich unwillkürlich ins Ohr schraubende Hauptthema, das sich in vielen Variationen im Spiel wiederfindet.
Fans mit der Erwartung an hyperrealistische Weltraumsimulationen werden mit «Chorus» nur bedingt glücklich. Wer rund zwei Dutzend fesselnde Stunden im Pilotinnensitz Platz nehmen will, ohne sich Knoten in die Finger oder ins Hirn zu machen, liegt aber goldrichtig. Fast könnte man das Erlebnis tiefenentspannt nennen, wenn da nicht zwei Kritikpunkte wären. Zum einen geht mitunter die Übersicht flöten. Das Katz-und-Mausspiel mit feindlichen Starfightern wird gerade vor kleinteiligen Hintergründen wie etwa einer grossen Raumstation zum Geduldsspiel. Der praktisch nur per Bordfunk oder durch Gespräche der Pilotin mit sich selbst und mit ihrem Flieger vermittelten Geschichte folgt man zudem nur schwer, weil man sich gleichzeitig auf das Geschehen auf dem Bildschirm konzentrieren muss. Man kennt das Phänomen aus Spielen von «Rockstar Games», wenn man während einer Verfolgungsjagd permanent zugetextet wird. Die anderen Qualitäten, allen voran die überzeugende Darstellung des grenzenlosen Weltalls und die charismatische Stimme der gebrochenen Heldin, wiegen diese Mankos aber locker auf.