Das Wichtigste in Kürze:
Inhaltsverzeichnis:
Sergio Taiana hat schon viel unternommen, um Rehkitze zu retten.
Er ist Jagdaufseher im Revier Glattfelden-Nord «Laubberg» und Naturschützer im ureigensten Sinn.
An einem lauen Sommermorgen bin ich mit ihm unterwegs, um eine relativ neue Rettungsmethode kennenzulernen:
Seit Jahrzehnten versuchen die Glattfelder Jäger mit herkömmlichen Methoden, Rehkitze vor dem Mähtod zu bewahren. Am Vorabend, bevor das Gras geschnitten wird, gehen sie auf die Felder, um diese zu «verblenden».
Das ist Jägersprache und heisst, dass sie Tücher aufspannen und andere auffällige Objekte platzieren. Dadurch sollen die Geissen, die in diese Felder «gesetzt» hatte, alarmiert werden, so dass sie ihre Kitze über Nacht wegführen.
Die Resultate waren nicht zufriedenstellend, wie Taiana erzählt. Auch das Abschreiten zu Fuss und mit Hunden brachte nicht die erhoffte «Rettungsquote».
Rehkitze haben keinen Eigengeruch, weil sie nach der Geburt von der Mutter abgeleckt werden. Das schützt sie vor natürlichen Fressfeinden wie dem Fuchs – und darum sollte man sie unter keinen Umständen mit den Händen berühren.
Doch wird einigen die perfekte Tarnung zum Verhängnis.
Dazu muss man wissen, dass eine gesunde Rehgeiss jedes Jahr im Schnitt zwei Junge zur Welt bringt. Allein im Revier der Jagdgesellschaft Laubberg, das über 800 Hektaren (und davon 216 Hektaren Wald) umfasst, leben über 30 Geissen.
Von Mai bis Juni, je nach Wetter, holen die Bauern im Zürcher Unterland die Heuernte ein. Ab dem 15. Juni dürfen sie die Ökowiesen mähen, für die es vom Bund Direktzahlungen gibt (in den Berggebieten ist erst ab dem 15. Juli Erntezeit).
Wenn ein Bauer mit bis zu 20 km/h über die Wiese fährt, hat er keine Chance, ein Kitz rechtzeitig zu sehen. Es gerät unter die rotierenden Messer der Mähmaschine – und erleidet schwerste Verletzungen. Dann muss Sergio Taiana gerufen werden, um es mit einem Fangschuss zu erlösen.
Doch das muss nicht sein ...
An normalen Tagen überfliegt Heinz Simmler Dächer mit Solaranlagen. Er ist zertifizierter Elektro-Thermograf und Mitinhaber einer Firma, die solche Dienstleistungen anbietet.
Sein unverzichtbares Arbeitsgerät ist eine Drohne, oder genauer ein Quadcopter, mit leistungsfähiger Wärmebildkamera.
An diesem Frühsommertag treffen wir ihn vor Sonnenaufgang, um 05.30 Uhr. Simmler ist in ehrenamtlicher Mission hier.
Es sei wichtig, dass die zu kontrollierenden Gebiete noch im Schatten liegen, erklärt der Drohnenpilot. Sobald das Sonnenlicht auf Pflanzen und Steine falle, werde es schwierig, mit der Wärmebildkamera die Rehkitze zu entdecken.
Simmler bereitet sich gewissenhaft auf jeden Flug vor. Wenn es ein für ihn bislang unbekannten Gebiet ist, konsultiert er zunächst die Website des Bundesamtes für Zivilluftfahrt (Bazl).
Dort findet sich der Link zur interaktiven Drohnenkarte des Bundes, die Einschränkungen und Verbotszonen anzeigt.
Zum Einsatz kommen an diesem Morgen zwei Profi-Quadcopter des chinesischen Herstellers DJI.
Beide Profimaschinen gehören der Energie Netzwerk GmbH in Bachenbülach und sollen in Zukunft noch vermehrt auch für die Rehkitz-Suche in der Region eingesetzt werden.
Das entscheidende «Zubehör» ist die Wärmebildkamera. Es ist eine DJI Zenmuse XT. Wert: ca. 10'000 Franken. Die Kamera stammt vom schwedisch-amerikanischen Technologiekonzern Flir und unterliegt wegen ihrer grossen Leistungsfähigkeit gewissen Exportbestimmungen. Sie erfasst Temperaturdifferenzen zwischen minus 20 und plus 650 Grad Celsius auf 0,08 Grad genau. Das bedeutet, dass man auch nach über einer halben Stunde erkennen kann, wo ein Reh auf dem Boden lag.
Die Aufnahmen werden als stark komprimierte Bilder über einen digitalen Downlink an den Tablet-Computer des Quadcopter-Piloten übermittelt. Dort lassen sich die Videos in einer Auflösung von 640 x 480 Pixel (VGA) abspielen und speichern.
Simmler führt zum Glück mehrere Ersatzakkus im schwarzen Transportkoffer mit. Nach 40 Minuten Flugzeit schlägt sein Steuergerät erstmals durch lautes Piepsen Alarm.
Als geübter Drohnenpilot kann er die Drohne manuell mit dem Joystick lenken. Für ein rund sieben Hektaren grosses Gebiet benötigt er rund zehn Minuten. Es gibt aber auch noch einen Autopiloten: Mit der iPad-App DJI Ground Station (GS) Pro kann er auf dem Touch-Screen das Gebiet definieren, daraufhin wird es von der Drohne systematisch in Streifen überflogen.
Während des Überflugs schauen wir hochkonzentriert auf den Bildschirm, um ja keine roten Punkte zu verpassen. Denn dabei könnte es sich um ein Kitz handeln, oder auch um ein anderes Wildtier, wie das folgende Video zeigt ...
Zu Beginn des Videos (oben) ist gut zu sehen, wie Blätter und Baumstämme rot leuchten, weil sie bereits von der aufgehenden Sonne beschienen und aufgewärmt wurden.
Die Frischlinge sind nur eine überraschende Entdeckung, die wir an diesem Morgen machen. Ingesamt gelingt es uns, fünf Rehkitze im hohen Gras aufzuspüren und zu evakuieren. Weil die Jungtiere bereits mehrere Wochen alt sind, schaffen sie es aus eigener Kraft in den Schutz des angrenzenden Waldes.
Die Rehkitz-Rettung mittels Wärmebild-Drohne hat sich in Pilotversuchen in mehreren Kantonen bewährt.
Diesen Frühling starteten auch Jäger und Landwirte in Appenzell Ausserrhoden gemeinsame Feldversuche – und konnten erfolgreich Jungtiere vor dem «Vermähen» retten.
Die Bauern seien an der Methode interessiert, allerdings stellten sich mehrere Fragen, hiess es in Medienberichten. Es müsse nun ausgehandelt werden, wer für die Finanzierung zuständig wäre. Zusätzlich wollten bei schönem Wetter alle Bauern gleichzeitig mähen. Da brauche es Abklärungen, wie man ein solches System im ganzen Kanton einführen könnte.
Die Drohnensuche hat auch gemäss Sergio Taiana den grossen Vorteil, dass sie zuverlässiger funktioniert als die traditionellen Methoden, wie etwa das Verblenden. Eine hundertprozentige Sicherheit gebe es leider auch damit nicht.
Tatsächlich erreicht mich noch am gleichen Abend eine traurige Nachricht. Taiana erzählt, dass auf einem schmalen Wiesenabschnitt ein Rehkitz «vermäht» wurde. Der betroffene Bauer habe ihn angerufen und sei den Tränen nah gewesen.
Nichtsdestotrotz will der Jagdaufseher aus Glattfelden auch nächsten Frühsommer Wärmebild-Drohnen einsetzen. Er sei sicher, dass damit mehr Tiere gerettet werden können.
In der Schweiz liegt die Jagdhoheit bei den Kantonen – und die delegieren die Hege der Wildtiere an die Jäger. Stellt sich die Frage, wie der Staat die Drohnensuche unterstützt?
Der Leiter der Fischerei- und Jagdverwaltung des Kantons Zürich, Urs Josef Philipp, schreibt watson:
Gerne werde die Verwaltung die Resultate der Versuche sichten, um anschliessend entscheiden zu können, ob und in welcher Form allfällige Unterstützung geleistet werde.
Der Leiter der Jagdverwaltung:
Um möglichst erfolgreich Rehkitze retten zu können, gelte es standortabhängig und unter Miteinbezug der Landwirte jeweils frühzeitig zu klären, welche Methode eingesetzt werden soll, da es« leider wie erwähnt noch kein 100 Prozent sicheres Patentrezept» gebe, um alle Kitze rechtzeitig zu finden.
Die entscheidende Rolle spielen erfahrene und gut ausgebildete Drohnenpiloten, weil die Jäger wohl kaum auf genügend Einsätze kämen, um die erforderliche Flugpraxis zu erlangen und mit anderweitigen Aufgaben im Revier beschäftigt sind.
Der Dachverband die Schweizer Drohnenindustrie (SVZD) stellt seine Website als Koordinationsdrehscheibe zur Verfügung, damit einsatzbereite Piloten aufgeboten werden können.
Noch funktioniert das nicht landesweit, sondern ist auf gewisse Kantone begrenzt. Der SVZD beteilige sich bisher im Raum Solothurn, genauer im Bucheggberg und Wasseramt, erklärt Drohnenpilot Andreas Hoffmann, Rehkitzkoordinator beim SVZD, auf Anfrage. «Wir sind aber auch für den Kanton Bern in Diskussionen mit den Jagdvereinen und der Politik, jedoch gestaltet es sich leider noch schwierig das zu planen.»
In Solothurn sei ein zweijähriges Pilotprojekt des Bauernverbandes erfolgreich abgeschlossen worden. In diesem Jahr habe sich die Regionale Planungsgruppe dem Thema angenommen. Via Kanton habe das Gremium nochmals für zwei Jahre Gelder erhalten, um Piloten zu entschädigen. «Wir sind dieses Jahr mit sechs Piloten mit Koptern im Einsatz.»
Reich wird man damit nicht, wie Andreas Hoffmann bestätigt: «Im letzten Jahr wurden meine Reisekosten wohl gerade so knapp gedeckt, Material und Zeit vor Ort waren ehrenamtlich.»
Bisher gebe es nur geringe Unterstützung durch die Politik, sagt der erfahrene Drohnenpilot. Und wenn dann meist nur in Form von befristeten Projekten. «Ich glaube eine schweizweite Organisation auf Stufe Bund würde das Problem lösen.»
Wobei erschwerend die unterschiedlichen Organisationsformen der Jägerschaft je nach Kanton hinzukommen: So gibts in Solothurn die Revierjagd, in Bern hingegen die Patentjagd, was dort zu vielen verschiedenen Ansprechpartnern führe.
Bleibt die Frage, wer es bezahlt? Bisher sei die Rehkitz-Rettung für die Landwirte gratis gewesen, da die Jäger unter grossem zeitlichen Aufwand die Felder vor dem Mähen verblendet hätten, erklärt Drohnenpilot Hoffmann. Er finde es schade, dass diese Hege-Arbeiten der Jäger in der Öffentlichkeit zu wenig bekannt seien und wenig honoriert würden. «Von Seiten der Bauern dürfte nur wenig Interesse da sein, nun für neue Technologien plötzlich etwas zu bezahlen.» Indirekt seien die Bauern jedoch auch verpflichtet, die Wildtiere zu schützen.
Es ist also an den Politikern, eine gesamtschweizerische Lösung zu finden, die für alle Akteure akzeptabel ist.
Der Schweizerische Verband Ziviler Drohnen (SVZD) sucht freiwillige Drohnenpiloten mit geeigneter Hardware. Zu den Verbandsmitgliedern gehört neu auch Heinz Simmler.
Die Anforderungen an die Piloten und ihre Ausrüstung werden hier auf der SVZD-Website aufgelistet.
Für Bastler sei das alles für ca. 4000 Franken machbar, betont Hoffmann. Wer etwas Brauchbares ab Stange brauche, sei mit 6000 bis 7000 Franken dabei. «Wir haben aber auch Piloten mit Equipment im Wert von über 20’000 Franken.»
Hoffmann:
In der Ostschweiz und Zürich habe der SVZD leider noch keine Ableger, sagt Andreas Hoffmann. Interessierte könnten beim lokalen Jagdverband anfragen, wie das gehandhabt werde und ob Interesse bestehe. «So werden wir möglicherweise auch im nächsten Jahr im Kanton Bern verfahren».
Der einzelne Pilot müsste dann einen Vertrag mit dem Jagdverband abschliessen, um auch eine Entschädigungsregelung zu vereinbaren. Bei Fragen könne man sich gerne an den SVZD wenden, sagt Hoffmann. «Auf Wunsch stelle ich jeweils auch Unterlagen sowie Berechnungstabellen z.B. zu Flughöhe und Suchbreite je nach verwendeter Kamera zur Verfügung.»
Daneben gibt es auch noch den gemeinnützigen Verein Rehkitzrettung Schweiz, der ebenfalls Rettungsteams ausbildet und auf Spenden von Privaten und Firmen zählt.
Gemäss offizieller Jagdstatistik kommen in der Schweiz jährlich mehrere tausend Rehkitze durch Mähmaschinen ums Leben. Die Dunkelziffer dürfte erheblich höher liegen.
Wer in einer Wiese ein Tier entdeckt, sollte es nicht berühren, sondern den Jagdaufseher benachrichtigen.