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Netzneutralität: Schlichtungsstelle startet heute

Technisch ist es heute kein Problem, dass Internetprovider Daten beim Transport blockieren oder verlangsamen. Netflix, Spotify, Skype oder Threema müssten sich frei kaufen, um ihre Nutzer nicht mit la ...
Technisch ist es heute kein Problem, dass Internetprovider Daten beim Transport blockieren oder verlangsamen. Netflix, Spotify, Skype oder Threema müssten sich frei kaufen, um ihre Nutzer nicht mit langsamen Apps oder Webseiten zu vergraulen.bild: via radiobruxelleslibera

Swisscom, Sunrise und Cablecom wollen das Zwei-Klassen-Internet. Das riecht nach Ärger! Genau darum gibt es jetzt eine Schlichtungsstelle

01.09.2015, 17:0203.09.2015, 07:21
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Eine neue Schlichtungsstelle vermittelt ab heute bei Streitigkeiten zwischen Kunden und den Internetanbietern bei einer allfälligen Verletzung der Netzneutralität. Swisscom, Sunrise, Salt sowie UPC Cablecom haben Ende 2014 einen Verhaltenskodex unterschrieben, der sie verpflichtet, ihre selbst auferlegten Verhaltensrichtlinien einzuhalten.

«Internetnutzer, welche der Meinung sind, ihr Internetanbieter verletze den Verhaltenskodex zur Netzneutralität, können die neue Schlichtungsstelle anrufen, wenn die vorgängigen Gespräche mit dem Netzbetreiber zu keiner Klärung geführt haben», heisst es in der Medienmitteilung von Swisscom. Die Schlichtungsstelle werde durch die Mobilfunkanbieter finanziert, arbeite aber unabhängig.

Ein Beispiel für einen Verstoss gegen die Netzneutralität wäre der folgende fiktive Fall: Frau Muster nutzt ein Mobilabonnement von Swisscom, Sunrise oder Salt. Nun möchte sie die Musik-Streamingdienste Google Music oder Apple Music nutzen. Als sie diese aufruft, zeigt das Smartphone an, dass diese Apps gesperrt sind oder das Datenvolumen belasten und sie doch stattdessen Spotify nutzen soll, das ihr Datenguthaben nicht belastet. Die Schlichtungsstelle müsste nun prüfen, ob das Verhalten der Mobilfunkanbieter legal ist.

«Netzneutralität bedeutet, dass Videos, Musik und Webseiten von Internetfirmen wie YouTube, Facebook oder watson von den Internetprovidern gleich schnell über ihre Datennetze transportiert und nicht blockiert werden.»
Simon Schlauri, Rechtsanwalt

Unter Netzneutralität versteht man, dass alle Daten beim Transport durch das Internet gleich behandelt werden, unabhängig von Absender, Empfänger, Dienst, Anwendung oder Inhalt. Konkret heisst dies, dass Videos, Musik und Webseiten von Internetfirmen wie YouTube, Facebook oder watson von den Internetprovidern gleich schnell über ihre Datennetze transportiert und nicht blockiert werden. 

Von einigen Beispielen abgesehen war das Internet bislang weitgehend offen. Alle Anbieter von Internet-Diensten wurden von den Internetprovidern gleich behandelt. Die Provider drängen jedoch seit längerem auf das Zwei-Klassen-Internet. Videos, Musik oder Webseiten von Firmen, die für die Netznutzung bezahlen, sollen schneller zu den Nutzern transportiert werden.

Die Folge: Wer nicht bezahlt, wird ausgebremst. Dies sei notwendig, um den rasant wachsenden Datenverkehr bewältigen zu können, sagen Swisscom und Co. Damit würde das bislang geltende Prinzip der Netzneutralität aufgegeben. 

Technisch ist es heute kein Problem, dass Provider Daten im Internet beim Transport blockieren oder verlangsamen. Zum Beispiel wurde der Streaming-Dienst Netflix vom mächtigen Netzbetreiber Comcast in den USA bewusst gedrosselt. Auch Skype wurde von Mobilfunkanbietern blockiert oder verlangsamt.

«Swisscom und Sunrise bevorzugen auf ihren Netzen eigene Internet-Dienste oder die von ausgewählten Partnern.»
Simon Schlauri, Rechtsanwalt
John Oliver erklärt Netzneutralität.youtube

Kenner des Themas befürchten, dass mit dem Ende der Netzneutralität grosse Anbieter wie Google, Facebook oder «20 Minuten» von der Bevorzugung durch die Internetprovider profitierten, kleine Rivalen wie Teleboy, Threema oder watson würden benachteiligt. 

Konkret: Während finanzstarke Firmen wie WhatsApp das Geld haben, um für die schnelle Übertragung von Milliarden Kurznachrichten zu bezahlen, hätten kleine Konkurrenten wie Threema kaum die notwendigen Mittel. 

«Die grossen Internetprovider nutzen ihre Marktmacht aus. Würde die kleine Swisscom von Google für den Transport der YouTube-Videos Geld verlangen, würden die Amerikaner bloss lachen. Bei kleineren Internetdiensten besteht jedoch die Gefahr, dass sie zur Kasse gebeten werden, damit ihre Angebote gleich schnell wie jene von Google oder Facebook übertragen werden», sagte Rechtsanwalt Simon Schlauri im Interview mit watson.

Bei kleineren Internetdiensten besteht die Gefahr, dass sie zur Kasse gebeten werden, damit ihre Angebote gleich schnell transportiert werden im Netz wie jene von Google oder Facebook. 
Bei kleineren Internetdiensten besteht die Gefahr, dass sie zur Kasse gebeten werden, damit ihre Angebote gleich schnell transportiert werden im Netz wie jene von Google oder Facebook. bild: radiobruxelleslibera

Die neue Schlichtungsstelle arbeitet auf der Grundlage der freiwilligen Verhaltensregeln zur Netzneutralität von Swisscom, Sunrise, UPC Cablecom und Salt. Absolut neutral, wie der Begriff Netzneutralität es vermuten liesse, sei das Internet nie gewesen und könne es auch nicht sein, heisst es in den Erläuterungen zum Kodex. «Nicht alle Daten, welche durch das Internet fliessen, werden und sollen gleich behandelt werden», schreiben die Provider.

Unabhängige Experten sind kritisch

Unabhängige Experten der Digitalen Gesellschaft haben den Kodex bereits Ende 2014 harsch kritisiert. Die Provider wollten damit lediglich einer strengeren Regulierung durch den Bund zuvorkommen, argumentieren sie. Der Bund könnte das offene Internet per Gesetz vorschreiben. In den USA hat die zuständige Behörde FCC bereits Anfang Jahr strenge Regeln zur Wahrung der Netzneutralität verabschiedet

Schweizer Internet-Experten bemängeln, der freiwillige Verhaltenskodex der Provider habe mit Netzneutralität wenig zu tun, da gewisse Dienste (Streaming, Web-TV, Internet-Telefonie etc.) mit reduzierter Übertragungskapazität oder mit Datenlimiten zur Verfügung gestellt werden dürfen, sprich Anbieter von Internet-Diensten weiter diskriminiert würden.

Laut der Digitalen Gesellschaft bietet der Verhaltenskodex der Schweizer Internet-Provider unter anderem aus den folgenden Gründen keine Gewähr, dass die Netzneutralität gewahrt werde:

  • Es sei weiterhin möglich, von Inhalte- und Diensteanbietern Geld für die Durchleitung von Daten zu verlangen. Dadurch werde das wichtige «Innovation without permission»-Prinzip verletzt.
  • Die Verlangsamung von Daten werde nicht verboten. Im Verhaltenskodex sei nur von Blockierung die Rede. Gerade die Verlangsamung von Daten könne aber als Druckmittel gegen Anbieter eingesetzt werden, um zusätzliche Zahlungen zu erreichen. 
  • Die kommerzielle Diskriminierung werde explizit zugelassen, «so dass beispielsweise Anbieter wie Teleboy oder Wilmaa weiterhin von Salt (ehemals Orange) und Swisscom diskriminiert werden dürfen». 
  • Es werde keine Transparenz über Verletzungen der Netzneutralität gewährleistet. Solange die Provider nicht öffentlich und von sich aus über Verletzungen der Netzneutralität berichteten, könne von Transparenz keine Rede sein. «Wichtig wäre auch jederzeit Auskunft über allfällige Zahlungen von Inhalteanbietern für die schnellere Durchleitung zu erhalten. So besteht der Verdacht, dass Netlix in der Schweiz die grossen Internet-Provider für bessere Verbindungen bezahlt.» 
Soll der Bund die Netzneutralität per Gesetz garantieren?

Dieses Video erklärt in vier Minuten, warum wir für weniger Internet mehr bezahlen sollen

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9 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Gantii
01.09.2015 17:49registriert Februar 2015
Netzneutralität - das wichtigste gut des Informationszeitalters.
die zurückgeblibenen schweizer politiker schaffen es trotzdem nicht ein entsprechendes gesetz zu lancieren... die kriminellen provider die ansonsten für alles technisch 'anspruchsvolle' zu inkompetent sind - zb. fakerufnummern zu blockieren, roaming abschaffen usw. - riechen hier das grosse geld.
bald sind wahlen und von wichtigen themen wie diesem ist leider von keinem politiker etwas zu hören.. eine schande für ein land das rund ums thema neutralität ansonsten wohl die grösste fresse überhaupt hat.
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chwolf
01.09.2015 18:31registriert Dezember 2014
Das ganze wäre noch toller, wenn Swisscom und Co. die mindest Geschwindigkeit auch in den Dörfern einhalten würde und zudem nicht auch noch Leuten mit weniger Kenntnissen (meine Eltern u.a.) Abos aufschwatzen, deren Leistungen niemals erreicht wurden. Wir hatten an regnerischen Wochenenden häufig gar kein Internet, trotz Vertrag mit 200 Mbit/s.
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