Die Masseneinwanderungsinitiative wird als Zeichen zunehmender Angst verstanden. Angst vor masslosem Wachstum, Angst vor Fremden, Angst vor Überforderung. Das sei ernst zu nehmen, sagen sogar Gegner der Initiative. Woher kommen diese Ängste?
Daniel Strassberg: Ich halte die Rede von der Angst, vor allem darüber, dass die Ängste vor der Einwanderung berechtigt seien, für sehr zweifelhaft. Natürlich gibt es die Angst des Mittelstandes vor der Deklassierung, doch dass sich diese gegen Ausländer richtet, ist alles andere als natürlich.
Wenn diese Ängste nicht natürlich sind, heisst das, sie werden generiert?
Ja. Die Gesellschaft schafft einen Diskurs, um in einer ganz bestimmten Art und Weise über Probleme zu reden. Innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens ordnen wir unsere realen Erfahrungen ein. Solche Rahmen legen Grenzen fest: Wer dazugehört, wer nicht und wer für Probleme verantwortlich ist. Früher gab es ganz andere Grenzziehungen. Beispielsweise die Einteilung in Oberschicht und Unterschicht oder jene in Männer und Frauen.
Heute ziehen wir die Grenze zwischen Ausländern und Schweizern.
Verübt ein rothaariger Serbe einen Diebstahl, verfügen wir über Kategorien der Einteilung und der Verursachung. Dass es ein Serbe war, scheint eine Erklärung herzugeben. Ob der Dieb gross oder klein, rot- oder braunhaarig ist, interessiert hingegen nicht. Ein anderes Beispiel ist die Mietpreisdiskussion. Zuwanderer werden als Schuldige für die hohen Mietpreise angesehen. Dabei gibt es andere Faktoren, die einen weit grösseren Einfluss haben.
Warum denken wir in diesen Kategorien?
Wenn ein Schema zur Verfügung steht, kann man fast nicht anders, als dieses zu bemühen. Jedes herrschende Schema lässt andere mögliche Unterscheidungen verschwinden. Der Antisemitismus sei der Sozialismus der dummen Kerls, sagte der Sozialist August Bebel einmal. Die Einteilung in Juden und Nichtjuden ist einfach und vor allem: Sie tangiert bestehende Machtverhältnisse nicht. So funktioniert die Gesellschaft, so strukturiert sich Macht.
Kategorien werden sich also nie auflösen?
Die Grenzziehungen werden sich ändern, aber es wird sie immer geben. In Zukunft wird wohl die Grenze zwischen Christen und Muslimen noch relevanter werden als jene zwischen Schweizern und Ausländern. Diese neue Unterscheidung der Rechten ist im Grunde antinationalistisch, denn sie beruft sich nicht mehr auf schweizerische, sondern auf europäische Werte, also auf die Werte des christlichen Abendlandes. Ich glaube deshalb, dass es am Ende die Rechte sein wird, die dem Nationalismus den Garaus macht, während die Linke die schweizerischen Werte verteidigt.
Konservative besinnen sich also auf eine nichtschweizerische Leitkultur?
So ist es. In wenigen Jahren wird es eine Initiative geben, die die Einwanderung von Muslimen beschränken will. Und sie wird die Probleme ebenso wenig lösen wie die Masseneinwanderungsinitiative. Aber sie wird das schöne Gefühl geben, eine einfache und klare Lösung für die Probleme in einer unübersichtlichen Welt gefunden zu haben.