Nach Peter Uebersax ist Geri Müller fast gerettet. «Wenn einer nach drei Tagen noch steht, dann dreht der Wind», pflegte der ehemalige Überchefredaktor des «Blick» (im Amt von 1980 bis 1986), Erfinder von Sexberaterin Marta Emmenegger und Begründer der Schweizer Boulevardkultur, zu sagen.
Morgen ist der dritte Tag nach Platzen der sonntäglichen Bombe und Müller steht noch. Schamgebeugt zwar, aber er steht.
Die Geschichte der «Schweiz am Sonntag», wonach Müller seine Ex-Geliebte genötigt habe, ihr Handy rauszurücken und ihr die ihm unterstellte Badener Stadtpolizei auf den Hals gehetzt habe, ist in sich zusammengefallen, falls keine neuen Fakten auftauchen.
Müller hat keinen Amtsmissbrauch begangen, er ist von einer zweifelhaften Kronzeugin mit Selbstmorddrohungen unter Druck gesetzt und heimlich aufgenommen worden. Sie hat sich strafbar gemacht, er nicht.
Dazu gibt der Badener Stadtammann zerknirscht den reuigen Sünder: Seht her, ich bin auch nur ein Mensch von dunkler Triebhaftigkeit, wie ihr alle. Ich entschuldige mich bei meiner Familie und meinen Mitarbeitern. Ich bereue zutiefst. Und ich bitte um Verzeihung.
Diese wird ihm gewährt werden. Mit der gewählten Kommunikationsstrategie weicht die öffentliche Empörung am uebersax'schen dritten Tag dem Mitleid und entwickelt sich dann allmählich zu Sympathie für den schwachen Mann, der von einer enttäuschten Gespielin reingeleimt worden ist.
Insofern hat sich seit den Zeiten Uebersax' nichts geändert.
Neu an #gerigate ist das Phänomen des Nacktselfie, das kürzlich auch im Fall der «Porno-Sekretärin» im Bundeshaus eine Rolle spielte. Darf man Nacktselfies aus dem Büro? In einem öffentlichen Amt?
Ja, man darf. Seit es Telefone und Handys gibt, haben Liebende sich während der Arbeit mitgeteilt, worauf sie sich nach Feierabend freuen. Solange es erzählt wird oder per SMS geschrieben, kräht kein Hahn danach.
Das Beweisbildchen der Lust aber, das ist neu. Und «Neu» ist im Nachrichtengeschäft immer auch eines der Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit «öffentliches Interesse» besteht, unter dessen Deckmantel die Medien die beiden Fälle publik gemacht haben.
Damit haben sie sich unverzeihlicherweise zu Gehilfen eines weiteren neuen Phänomens gemacht, dem des «Revenge-Porn». Die öffentliche Verbreitung intimer Bilder eines ehemaligen Partners ist das letzte und niederträchtigste Mittel der Verlassenen und Betrogenen, grösstmöglichen Schaden anzurichten.
Die Kriterien der Redaktionen, solchen Aktionen «öffentliches Interesse» zu attestieren, gilt es in diesem Bewusstsein zu justieren. Soll man sich nach diffus-schraffierten Moralnormen richten, die nur dazu dienen, Revenge-Porn-Geschichten im redaktionellen Teil zu rechtfertigen? Seht her, er ist doch erpressbar? Wegen unserer Moral?
Nein.
Die Medien sollten sich in diesen Fragen an strafrechtlichen Masstäben orientieren. Einvernehmlicher Sex zwischen mündigen Erwachsenen, auf welcher Ebene auch immer, ist nicht verboten.
Wenn kein anderweitiges rechtliches Fehlverhalten von Beteiligten des öffentlichen Lebens erwiesen ist oder von den Strafverfolgungsbehörden zumindest untersucht wird, verbietet sich eine Publikation.
Sonst läuft man Gefahr, auf dem Level von Youporn und Co. zu landen. Dort erfreuen sich Rubriken wie «Sex mit der Ex» grosser Beliebtheit.
Und nicht einmal dort gehören sie hin.
Frage mich aber gleichzeitig auch immer noch, ob wir keine ernsteren Probleme haben. Weshalb bei dem, was die SVP tut, Verbotsforderungen derart selten sind, bei Nacktselfies eines Politikers (an seinem Arbeitsort) allerdings Rücktrittsforderungen laut werden. Ist das etwa skandalöser?
Und das ausgerechnet jetzt. Selbst in einer funktionierenden Demokratie müsste man sich fragen, ob die Ansprüche, die an G.M. gestellt werden, verhältnismässig sind. Aber so ...
Er ist ein Mensch mit Fehlern, der diese erkennt und auch zu ihnen steht gegen die Unmenschen, die sich nicht einmal vorstellen können, jemals einen Fehler zu haben oder begehen zu können und deshalb selbstverständlich die oberste moralische Instanz und das Recht sind und deshalb auch der "öffentlichen Meinung" befehlen dürfen, was von "öffentlichem Interesse" ist und was nicht.
Thomas Binder, Baden