Gesellschaft & Politik
Hongkong

Vom Reporter zum Revolutionär: Meine Zeit in der Hongkonger Umbrella-Bewegung

Drei Wochen inmitten der Hongkonger Proteste: watson-Reporter Roman Rey.
Drei Wochen inmitten der Hongkonger Proteste: watson-Reporter Roman Rey.Bild: Catherine KEith
Ein persönlicher Rückblick

Vom Reporter zum Revolutionär: Meine Zeit in der Hongkonger Umbrella-Bewegung

75 Tage besetzten prodemokratische Demonstranten das Zentrum Hongkongs. Ein watson-Reporter war drei Wochen mittendrin. Jetzt blickt er zurück.
11.12.2014, 20:3712.12.2014, 13:24
Roman Rey
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Die Revolution ist vorbei: 7000 Polizisten räumen das Protestlager in Hongkong. Es tut weh, diese Bilder zu sehen. Doch ich wusste, dieser Tag würde kommen. Wir alle wussten es. Mit wir meine ich die Regenschirm-Revolutionäre – denn ich war einer von ihnen, ein ganz kleines bisschen.

Wie alles begann: Ende September komme ich nach einem dreistündigen Flug von Bangkok in Hongkong an. Es fühlt sich ein bisschen an, wie nach Hause zu kommen, denn immer wieder hat mich die Reise hierhergeführt. Zu dem Zeitpunkt bin ich schon seit acht Monaten für watson als Nachtdienstler im Fernen Osten unterwegs.

Gerade wurden ein paar Studenten an einem Protest für mehr Demokratie verhaftet. Offenbar ist eine Solidaritäts-Demo geplant, also begebe ich mich tags darauf ins Stadtzentrum, um mir das aus der Nähe anzusehen. Tatsächlich versuchen am frühen Nachmittag mehrere Hundert Studenten zum Regierungsgebäude zu strömen, doch die Polizei sperrt alle möglichen Zugänge ab.

Ich verbringe den Nachmittag mit einer Gruppe Demonstranten bei einer Polizeiblockade in einer Seitenstrasse. Es ist ruhig, doch von weit weg ertönt ein Knall. Die Nachricht macht die Runde, dass die Polizei an einer anderen Front Tränengas eingesetzt habe.

Ich mache mich auf den Weg zur Hauptstrasse. Und was ich da sehe, verschlägt mir den Atem.

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Tausende Menschen im Bankenviertel Hongkongs, auf den Strassen, auf denen normalerweise der Verkehr pulsiert. Mit einem Schlag wird mir bewusst: Hier passiert etwas Grosses.

Ich bleibe bis spät in die Nacht und werde Zeuge einer grossen polizeilichen Räumungsaktion mit Pfefferspray und Tränengas – die scheitert. Die Demonstranten lassen sich nicht vertreiben. Es ist erst der Anfang. Die Geburtsstunde der Regenschirm-Revolution. 

«Wir werden noch Monate da sein», sagt mir der 30-jährige Jim. Ich bin skeptisch. Doch er soll recht behalten.

Vom Chronist zum Kollaborateur

An den folgenden Tagen bin ich, wenn ich nicht am Laptop sitze und schreibe, ständig auf der Strasse. Für meine watson-Artikel komme ich mit vielen jungen Leuten ins Gespräch und die Bewegung gewinnt unweigerlich meine Sympathien. Ich besuche den Protest jeden Tag, auch nachdem das Medieninteresse abflaut, ganze drei Wochen lang.

Kunst an den Hongkong-Protesten

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Kunst an den Hongkong-Protesten
Der Umbrella-Man im Zentrum des Hongkonger Bankenviertels wurde zum Symbol für die Protestbewegung.
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Die Hingabe, Kreativität und der Optimismus der jungen Demonstranten berühren und inspirieren mich zutiefst. Diese Kids bauen eine Stadt in der Stadt auf, verteidigen sie gegen die Polizei und kämpfen für die Zukunft ihrer Heimat. Es zeigt mir, wie viel Menschen leisten können, die sich zusammen für etwas einsetzen, das grösser ist als sie selbst. Alle für einen, einer für alle. «Wir sind eine Familie geworden», höre ich mehr als einmal. 

Irgendwann bin ich dann nicht mehr so richtig neutral.
Irgendwann bin ich dann nicht mehr so richtig neutral.

Nach zwei Wochen stehen im Zentrum des Stadtteils Admiralty, mittlerweile in «Umbrella Square» umgetauft, ein Zeltlager, eine grosse Lernecke mit Tischen, Lampen und Wi-Fi, eine Bühne mit Grossbildschirmen, Medizin- und Versorgungsstationen, eine Kunstecke, eine ikonischen Statue (der «Umbrella Man») und undurchdringbare Barrikaden, die alles beschützen. Die Demonstranten bringen Wasser, Essen, Schutzausrüstung, trennen den Müll, schneiden einander die Haare und regeln den Verkehr.

Das macht die Hongkong-Proteste einzigartig

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Das macht die Hongkong-Proteste einzigartig
So erobern die Hongkonger Demonstranten die Herzen: Sie schneiden Dir gratis die Haare.
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Ich werde vom Chronisten zum Sympathisanten, zum Kollaborateur. Ich schliesse Freundschaften und stehe mit den Hongkongern an der Front, wenn es brenzlig wird. Von einem gehörlosen Demonstranten lerne ich ein paar Hongkonger Gebärden.

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Bild: rey

Ich gehe mit meiner Ukulele auf die Strasse und singe den Demonstranten den Rihanna-Song «Umbrella» vor (zum Glück gibt es davon keine Videos). Mit einer guten Freundin aus der Schweiz mache ich Sandwiches, um wenigstens etwas beitragen zu können.

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bild: Rey

Nach drei Wochen stelle ich mich schweren Herzens darauf ein weiterzureisen und wünsche meinen neuen Freunden alles Gute. Am letzten Abend schlafe ich, eingewickelt in eine Wärmedecke, auf der Strasse – irgendwie muss das noch sein.

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bild: selfie

Um vier Uhr morgens gibt es ein unschönes Erwachen. Um uns herum schwirren Studenten und rufen Dinge, die wir nicht verstehen. Jemand übersetzt schliesslich: Die Polizei ist da, sie wird wohl räumen. Wie die anderen schnappe ich mir eine Gesichtsmaske und einen Mundschutz und gehe an die Front. Ich überlege mir kurz, ob ich bereit wäre, mich verhaften zu lassen. Dann folgt die Entwarnung: Es war ein Fehlalarm.

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«Es ist erst der Anfang»

Ich bin gegangen, die Demonstranten sind geblieben. Es ist ihr Kampf, nicht meiner, das war mir trotz allem immer bewusst. Trotzdem schmerzt es zu sehen, dass alles, was sie mit so viel Herzblut aufgebaut haben, niedergerissen wird, ohne dass ihre Forderungen nach mehr Demokratie erfüllt wurden.

Weder die Hongkonger Regierung noch Peking hat den Demonstranten Zugeständnisse gemacht. Doch die Stadt ist nicht mehr dieselbe, die sie vorher war. Der Protest hat eine ganze Generation geprägt. 

Unzählige, die vorher nicht politisch aktiv waren, gingen auf die Strasse, weil sie schockiert waren vom harten Vorgehen der Polizei. Dort sind sie geblieben, haben gelernt und sind zu einer Bewegung geworden. Und diese Einheit wird bleiben, auch wenn die Zelte weg sind. 

Die Ansage der Demonstranten kurz vor der Räumung ist deshalb klar und deutlich und könnte treffender nicht sein: «Es ist erst der Anfang.»

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Bild: TYRONE SIU/REUTERS

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