Gesellschaft & Politik

«Das Kontingentsystem ist eine Beruhigungspille fürs Volk»

Bild: KEYSTONE
Arbeitsmarktökonom

«Das Kontingentsystem ist eine Beruhigungspille fürs Volk»

10.02.2014, 15:5110.02.2014, 15:58
Daniela Karst, sda
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Das Ja zur SVP-Initiative «Gegen Masseneinwanderung» wird die Zuwanderung in die Schweiz nicht bremsen. «Die verlangte Wiedereinführung von Kontingenten wird vermutlich keine grossen Auswirkungen haben», sagt der Arbeitsmarktökonom George Sheldon. «Das Kontingentsystem ist nur eine Beruhigungspille für das Volk.»

«Kontingente wirken, als ob sie wirken würden», fügte der Wirtschaftsprofessor der Universität Basel im Gespräch mit der Nachrichtenagentur sda an. Die Zuwanderung hänge von der Wirtschaftsentwicklung ab, nicht von Kontingenten.

Und die Schweizer Wirtschaft werde für genügend grosse Kontingente sorgen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Der Bundesrat, der die Grösse der Kontingenten festlege, werde diese nach den Wünschen der Wirtschaft ausgestalten, wie er dies bereits in der Vergangenheit getan habe.

Denn der Bundesrat werde nicht riskieren wollen, dass die Schweiz für Firmen weniger attraktiv werde. «Wenn zum Beispiel ein grosser Pharmakonzern sagt, er brauche 50 ausländische Forscher, dann wird er diese bekommen.»

Höhepunkt vor Freizügigkeitsabkommen

Dass die SVP-Zuwanderungsinitiative ihre vordergründige Zielsetzung nicht erreichen wird, belegt gemäss Sheldon eine Blick in die Vergangenheit. Der zuletzt stark wahrgenommene Anstieg der Zuwanderung in die Schweiz habe keinen Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Personenfreizügigkeitsabkommens (FZA) mit der EU.

«Die Zuwanderung stieg bereits seit Mitte der 1990er Jahre an, also unter dem Regime der Kontingente», sagte Sheldon. Die Zuwanderung habe ihren Höhepunkt bereits 2002 erreicht - im Jahr des Inkrafttretens des FZA - und sei danach auf einem hohen Niveau geblieben.

«Wenn man allein die Grafiken betrachtet, könnte man gar behaupten, dass die Personenfreizügigkeit die Zuwanderung gebremst hat», sagte Sheldon. «Ich frage mich, warum man sich solche Probleme mit der EU einhandelt, wenn man doch genau weiss, dass Kontingente die Zuwanderung nicht steuern», sagte Sheldon.

Krise und Erholung in den 90er Jahren

Es wurde bereits vor der Annahme der Initiative spekuliert, welche Auswirkungen eine allfällige Auflösung der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU hätte. Dabei werden stets Parallelen gezogen zur Krise in den 1990er Jahren und zum Nein des Stimmvolks zu den EWR-Verträgen 1992.

Die Rezession in der Schweiz Anfang der 1990er Jahren sei neben dem EWR-Nein durch zwei weitere Faktoren ausgelöst oder verschärft worden, sagte Wirtschaftsprofessor Sheldon.

Zunächst hatte die Nationalbank (SNB) ihre Geldpolitik geändert. Eine Inflation folgte, worauf die SNB wieder auf die Bremse trat. Hinzu kam das Platzen der Schweizer Immobilienblase.

«Welcher der drei Faktoren welche Auswirkungen auf Dauer und Schwere der Krise hatte, lässt sich schwer sagen», sagte Sheldon. Ab Mitte der 1990er Jahre erholte sich die Wirtschaft und die Zuwanderungszahlen stiegen an.

Nicht «Büezer» kamen, sondern Chefs

Zugleich kamen gemäss Sheldon «andere Zuwanderer als früher». Bis in die 1980er Jahre hinein kamen vor allem Ungelernte. Akademiker machten nur rund 20 Prozent der Zuwanderer aus. Ab Mitte der 1990er Jahre waren dann bis zu 50 Prozent der Einwanderer Akademiker.

Die Schweizer Wirtschaft rief Ingenieure, Techniker, Naturwissenschaftler, Mathematiker, Informatiker, Mediziner und Ökonomen. Und die Hochqualifizierten kamen.

«Ab 2002 nahm die viel diskutierte Zuwanderung von Fachkräften aus den alten EU-Staaten, den sogenannten EU-15, gar wieder ab. Es kamen dafür etwas mehr Einwanderer aus den EU-Staaten Osteuropas», sagte Sheldon.

Auch die Finanzkrise ab 2008 wirkte sich auf die Zuwanderung aus: Die Zahl der Einwanderer aus Deutschland nahm wieder ab. Dies sei ein Hinweis darauf, dass viele Deutsche in der Finanzindustrie gearbeitet hätten. «Die Banken entliessen in der Krise Mitarbeiter. Viele entlassene Deutsche gingen wieder nach Hause.»

Ein ähnliches Bild dürfte sich auch bei zukünftigen Krisen zeigen: Die Hochqualifizierten wandern wieder ab, die Niedrigqualifizierten bleiben mangels Optionen. Das hätten verschiedene Studien gezeigt, sagte Sheldon.

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