Die Kalifornier werden am 4. November über eine Vorlage abstimmen, die zum Ziel hat, dass weniger Menschen in Gefängnisse gesperrt werden. Wie die Schweiz kennt der US-Bundesstaat nämlich die direkte Demokratie. Die vorliegende Abstimmung ist jedoch eine der speziellen Art. Es geht darum, ein Gesetz zu revidieren, das vor rund 30 Jahren ebenfalls per Volksabstimmung eingeführt wurde: das so genannte «three strikes law».
Dieses Gesetz sieht vor, dass jemand, der dreimal wegen einer Straftat verurteilt wird, lebenslänglich eingekerkert werden muss. Das gilt selbst dann, wenn es sich um triviale Straftaten ohne Anwendung von Gewalt handelt, Ladendiebstahl beispielsweise oder das Rauchen von Haschisch. Mit dem «three strikes law» wollten Hardliner die Welle der Kriminalität der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts einzudämmen.
Die Folgen waren katastrophal. Kalifornien hat heute überfüllte Gefängnisse und eine leere Staatskasse. Mehr Geld wird für die Strafverbüssung ausgegeben als für die Ausbildung. Kein Wunder: Ein Gefangener kostet den Staat jährlich rund 65'000 Dollar. Damit könnte man die die Schulkosten von drei Jugendlichen finanzieren. Die einzigen, die vom «three strike law » profitieren, sind die Gefängniswärter. Sie sind sehr gut bezahlt und verteidigen das absurde Gesetz mit Zähnen und Klauen.
Die Regierung von Kalifornien muss für ein unwirksames Gesetz Geld verschleudern, das sie gar nicht hat. Per Volksabstimmung haben die Wählerinnen und Wähler auch der Proposition 13 zugestimmt. Dieses Gesetz verlangt, dass Steuererhöhungen nur mit einer Zweidrittels-Mehrheit des Volkes durchgeführt werden können – was in der Praxis unmöglich ist. Das Resultat ist ebenfalls eine Katastrophe: Das einst reichste Bundesland der Vereinigten Staaten ist zu einer Lotterbude verkommen. Geld für Schulen, Infrastruktur und soziale Wohlfahrt fehlt an allen Ecken und Enden.
Wegen seiner direkten Demokratie ist Kalifornien zu einem Mahnmal geworden. So schreiben John Micklethwait – er ist Chefredaktor des renommierten Magazins «Economist» – und Adrian Wooldridge in ihrem Buch «The Fourth Revolution»: «Kalifornien ist das ultimative Beispiel dafür geworden, wie gefährlich es sein kann, wenn den Menschen das Recht eingeräumt wird, bei Steuern und Staatsausgaben direkt mitzubestimmen. Die Kalifornier haben diese Macht in voraussehbarer Art und Weise ausgeübt – sie haben sich für mehr Leistungen für sie und für tiefere Steuern ausgesprochen.» Logisch, dass diese Rechnung langfristig nicht aufgehen konnte.
Die Schweiz ist nicht Kalifornien. Die 1891 in ihrer endgültigen Form eingeführten direkten Volksrechte haben sich bei uns grundsätzlich bewährt; und die vierteljährlich durchgeführten Abstimmungen sind zu einer eigentlichen politischen Volkshochschule geworden. Die Schweiz hat heute dank der direkten Demokratie ein Selbstbestimmungsmodell, das weltweit anerkannt und bewundert wird.
Aber die Schweiz ist auf dem Weg nach Kalifornien. Die Zahl der fragwürdigen Volksinitiativen häuft sich. Minarett-, Ausschaffungs- , Pädophilie-, Abzocker- und Unverjährbarkeitsinitiative sind schwer mit Verfassung und Menschenrecht zu vereinbaren. Zudem hat sich die Bevölkerung in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg in etwa verdoppelt. Seit 1977 ist hingegen die Zahl der für Initiativen und Referendum nötigen Unterschriften gleich geblieben.
Um kalifornische Verhältnisse in der Schweiz zu vermeiden und die direkte Demokratie zu stärken, schlägt die staatspolitische Kommission des Ständerates vor, die Hürden für Volksinitiativen erhöhen. Wie zu erwarten war, hat das ein Protestgeheul von rechts ausgelöst. «Die SVP hält von den bekannt gewordenen Vorschlägen gar nichts», liess Toni Brunner ausrichten.
Wenn es für das Volk und gegen die vermeintliche Elite der Classe politique geht, sind Blochers Mannen sofort zur Stelle mit kernigen Sprüchen. Doch was ist von diesen Protesten zu halten? Sie sind heuchlerisch. Das zeigt das Beispiel von Roger Köppel, Chefredaktor der «Weltwoche» und Sprachrohr von Christoph Blocher.
Als vor ein paar Monaten bekannt wurde, dass sich auch beim Bund eine Arbeitsgruppe über die Zukunft der Volksrechte Gedanken macht, sprach Köppel im Einklang mit der SVP von «skandalösen Planspielen». «Das sind keine eingebildeten Klopfzeichen, sondern Tatsachen», tobte Köppel. «Die Polit-Elite ist im Begriff, gesetzgeberische Kompetenzen von unten nach oben zu verlagern. Wenn man sie denn lässt. Als einzige Partei arbeitet die SVP an einer Strategie, um diesen Trend abzubremsen.»
So weit so gut. Doch während Köppel sich grosse Sorgen um die Schweizer Demokratie macht, hat er kein Problem damit, Lobeshymnen auf ausgerechnet die Diktatoren zu singen, die in ihren Ländern die Demokratie abwürgen. Die «Weltwoche» gehört nach wie vor ins Lager der Putinversteher, und Köppel wirbt praktisch in jeder Ausgabe für Verständnis für die empfindliche russische Seele und die grossen Probleme des Herrschers im Kreml. Über Putins faschistoide Hetzkampagne gegen Homosexuelle und politische Gegner schweigt hingegen des Sängers Höflichkeit.
Grosses Verständnis bringt Köppel auch für Viktor Orban auf. Ungarns Ministerpräsident hat die Demokratie öffentlich zu einem Auslaufmodell und den Staatskapitalismus nach russischem Vorbild zum Zukunftsmodell erklärt. Ebenso hat Orban die Pressefreiheit drastisch eingeschränkt und die Roma zu Feinden des Vaterlandes empor stilisiert.
In der «Weltwoche» wird Orban gefeiert. So lässt Köppel den deutschen Verfassungsrechtler Rupert Scholz im selbst geführten Interview Sätze äussern wie: «Die ungarische Verfassung ist eine durchaus vorbildliche moderne europäische Verfassung. Besonders modern ist sie im Bereich der Grundrechte.» Orban selbst wird von Köppel als «sympathisch, offen, humorvoll, jugendlich, sogar selbstkritisch» bezeichnet und als Politiker, der sich für «Familie, Nation, christliche Werte, harte Arbeit, Freiheit und Eigenverantwortung» einsetzt.
Man kann darüber diskutieren, ob und wie die direkte Demokratie in unserem Land reformiert werden soll. Das wird auch geschehen – und das Volk wird dabei das letzte Wort haben. Bei Verfassungsänderungen sind Volksabstimmungen obligatorisch, deshalb wird es auch keiner eingebildeten Elite je gelingen, die Rechte des Schweizer Stimmvolks ohne dessen Zustimmung zu beschneiden.
Die Sorgen um die Schweizer Demokratie sind Phantomschmerzen. Jede Politikerin und jeder Politiker würde sich lieber nackt auf die Strasse wagen, als die Abschaffung von Initiative und Referendum fordern. Das Beispiel von Kalifornien zeigt jedoch, dass auch die direkte Demokratie missbraucht werden kann. Wir können jederzeit gefahrlos eine Diskussion über eine Anpassung an die modernen Verhältnisse führen, denn das letzte Wort bleibt auf jeden Fall bei den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern. Misstrauisch sollten wir hingegen gegenüber denjenigen sein, die sich angeblich grosse Sorgen um unsere Demokratie machen – und gleichzeitig Diktatoren bewundern.