Gesellschaft & Politik
Islamischer Staat (IS)

Warum uns das Chaos auf der Welt ängstigen sollte – und warum nicht

Warum uns das Chaos auf der Welt ängstigen sollte – und warum nicht

Ebola-Warntafel in Monrovia, der Hauptstadt von Liberia.Bild: EPA/EPA
Analyse
IS-Terror, Ukraine-Krise, Ebola-Epidemie: Die Welt scheint im Chaos zu versinken. Warum wir uns vor Klimaerwärmung und Seuchen mehr fürchten müssen als vor Putin und den Islamisten.
27.09.2014, 08:1027.09.2014, 18:28
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John McCain griff tief in den Topf mit schwarzer Farbe. «Ich habe die Welt noch nie so chaotisch erlebt wie heute», ereiferte sich der republikanische US-Senator aus Arizona im Juli auf dem Fernsehsender Fox News. Verantwortlich dafür machte er seinen Lieblingsfeind: US-Präsident Barack Obama.

Die vielen Negativmeldungen der letzten Zeit erzeugen in der Tat ein düsteres Bild: Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verbreitet Angst und Schrecken. Russlands Präsident Wladimir Putin lässt im Nachbarland Ukraine die Muskeln spielen und erschüttert das friedliche Europa. In Westafrika fordert die Ebola-Epidemie Tausende von Todesopfern. Diese Woche wurden wir zudem daran erinnert, dass der Kampf gegen den Klimawandel längst nicht gewonnen ist.

Ausschnitt aus einem IS-Propagandavideo.
Ausschnitt aus einem IS-Propagandavideo.Bild: AL-FURQAN MEDIA

Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Die heutigen Bedrohungen lassen ein Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit aufkommen. Aber war früher wirklich alles besser?

John McCain ist 78 Jahre alt. Er müsste sich an den Zweiten Weltkrieg erinnern, die schlimmste Schlächterei der Menschheitsgeschichte. Der Senator war Kampfpilot im Vietnamkrieg, von 1967 bis 1973 befand er sich in nordvietnamesischer Gefangenschaft. Damals wurde er auch gefoltert.

Exekution anno 1968: Der Polizeichef von Südvietnam erschiesst einen Vietcong-Kämpfer.
Exekution anno 1968: Der Polizeichef von Südvietnam erschiesst einen Vietcong-Kämpfer.Bild: AP NY

Im heute oft verklärten Jahr 1968 tobte nicht nur der Vietnam-, sondern auch der Biafra-Krieg in Nigeria. Er führte zu einer Hungerkatastrophe. Der Warschauer Pakt walzte den Prager Frühling nieder. In den USA wurden Robert Kennedy und Martin Luther King erschossen. Der deutsche Studentenführer Rudi Dutschke wurde von einem Rechtsradikalen lebensgefährlich verletzt. Die spätere Rote-Armee-Fraktion (RAF) verübte ihre ersten Anschläge auf Kaufhäuser.

Früher war nicht alles besser als heute, im Gegenteil. In den letzten Jahrzehnten hat die Menschheit grosse Fortschritte gemacht. Die Zahl der bewaffneten Konflikte nahm ab, die Kindersterblichkeit ist rückläufig, immer mehr Menschen haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. Millionen Menschen schafften den Aufstieg aus der Armut.

Umso stärker fällt eine Häufung von Ereignissen auf, die als bedrohlich und irgendwie nicht beherrschbar empfunden werden. Schnell entsteht der Eindruck, die Welt versinke im Chaos. 

Ein Plakat in Kiew zeigt Putin neben Hitler und Stalin.
Ein Plakat in Kiew zeigt Putin neben Hitler und Stalin.Bild: AFP

Aber wie sieht es bei genauer Betrachtung aus? Wladimir Putin spielt den starken Mann, er will, dass Russland als Grossmacht respektiert wird. Doch während die Sowjetunion 1968 ungeniert in die Tschechoslowakei einmarschierte, führt Putin in der Ukraine einen verdeckten Krieg. Er scheint (noch) zu wissen, dass er gewisse Grenzen nicht überschreiten kann.

Die Kopfabschneider des Islamischen Staats dagegen kennen keinerlei Skrupel, sie zelebrieren ihre Brutalität regelrecht. Dahinter aber steckt eine Verlierermentalität, genauer die Tatsache, dass der religiöse Fanatismus sich gegenüber dem Rationalismus unweigerlich auf dem Rückzug befindet.

Hollywoodstar Leonardo Di Caprio an der Grossdemo in New York, die Massnahmen gegen den Klimawandel forderte.
Hollywoodstar Leonardo Di Caprio an der Grossdemo in New York, die Massnahmen gegen den Klimawandel forderte.Bild: EDUARDO MUNOZ/REUTERS

Der IS, der überwiegend Muslime massakriert, könnte in der islamischen Welt als Gegenreaktion sogar einen Modernisierungsschub bewirken. Natürlich besteht die Gefahr von Anschlägen im Westen durch Rückkehrer aus dem Irak und Syrien. Aber das Risiko, Opfer eines Verkehrsunfalls zu werden, ist um ein Vielfaches grösser.

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Putin und der IS werden verschwinden. Wirklich ernst nehmen sollte man andere Bedrohungen, vor allem Ebola und den Klimawandel. Sie erinnern uns an eine unbequeme Wahrheit, die wir gerne verdrängen: Gegen die Kräfte der Natur ist der Mensch letztlich machtlos. Wir können einen Impfstoff gegen Ebola entwickeln, doch das nächste Killervirus wird unweigerlich auftauchen. Kaum absehbar sind die Konsequenzen des Klimawandels. Aber wollen wir es darauf ankommen lassen und weiterhin ungeniert Treibhausgase produzieren?

Mit solchen Fragen müssten wir uns auseinandersetzen, auch in den Medien. Aber die Köpfungsvideos des IS sind einfach geiler. Vielleicht hatte der verstorbene Wissenschaftler und Bestsellerautor Stephen Jay Gould recht, als er den Homo sapiens als «glorreichen evolutionären Unfall» bezeichnete. Eine Anomalie der Natur, die auch irgendwann verschwinden wird.

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