Gesellschaft & Politik
Tessin

Ablehnung in der Stadt, Zustimmung auf dem Land: So einfach lässt sich das Ja nicht erklären

Bild: KEYSTONE
Nach dem Urnengang

Ablehnung in der Stadt, Zustimmung auf dem Land: So einfach lässt sich das Ja nicht erklären

Das Ja zur Zuwanderungs-Initiative verleitet zu einfachen Erklärungen. Doch sind die urbanen Gebiete wirklich ausländerfreundlich? Und leben auf dem Land vor allem Hinterwäldler? Drei Thesen.
11.02.2014, 07:0311.02.2014, 20:57
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1. Die Initiative hat einen Stadt-Land-Graben aufgerissen

Der Fall scheint klar: Bei der SVP-Initiative gegen Masseneinwanderung hat sich ein tiefer Graben zwischen den städtischen und den ländlichen Regionen vor allem in der Deutschschweiz geöffnet.

Vertieft man sich jedoch in die politische Landkarte der Schweiz, so stellt man fest: Diese Annahme trifft nur in der Tendenz zu. Die Realität ist etwas komplizierter. 

Auf dem Land findet man problemlos Beispiele, die das vermeintliche Hinterwäldlertum belegen. Etwa Berken, eine winzige Gemeinde mit knapp 50 Einwohnern in der Nähe von Langenthal (BE). Ausländeranteil: Null. Ja-Anteil bei der SVP-Initiative: Knapp 90 Prozent.

Oder Unterschächen im Kanton Uri: 2,4 Prozent Ausländer, 84,9 Prozent für weniger Zuwanderung. Oder die Tessiner Gemeinde Isone: Mehr als 90 Prozent stimmten Ja, bei 8 Prozent Ausländern. 

Doch gerade das Tessin zeigt kein einheitliches Bild: Auch die grossen Gemeinden Lugano, Bellinzona und Locarno mit deutlich höherem Ausländeranteil stimmten klar für die Initiative. Während sie in Isorno im Onsernonetal nur auf 38,5 Prozent Zustimmung stiess.

Noch komplexer zeigt sich das Bild im Kanton Graubünden, der mit 50,6 Prozent knapp Ja sagte. Ländliche, vom Tourismus abhängige Regionen lehnten die Initiative ab, der italienischsprachige Kantonsteil stimmte zu. 

Anderswo dieselben Widersprüche: Warum stimmten in der Baselbieter Gemeinde Ramlinsburg nur 45 Prozent für die Zuwanderungs-Vorlage, im wenige Kilometer entfernten Liedertswil aber 75 Prozent?

Resultate der ausgesuchten Gemeinden

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2. Die Initiative wurde in der Agglomeration entschieden

Je stärker eine Region urbanisiert und wirtschaftlich entwickelt ist, umso grösser die Opposition gegen die Initiative.

Auf den ersten Blick sieht es auch so aus: In Baden, mit einem Ausländeranteil von 25,6 Prozent, wollen nur 34,7 Prozent die Einwanderung kontingentieren. Ähnlich in Olten, wo nur 41,6 Prozent der Bewohner für die Initiative gestimmt haben und 27,2 Prozent Ausländer leben.  

Doch etwas weiter westlich droht der These bereits die Luft auszugehen: In der kriselnden Industriestadt Grenchen stimmten 64,4 Prozent Stimmbürger der SVP-Initiative zu, während die Stadt Solothurn sie mit 65,6 Nein-Stimmen klar ablehnte.

Ebenso wenig überzeugen die Zahlen aus Graubünden: Während Chur mit einem Ausländeranteil von 18,5 Prozent Nein sagte, stimmte Landquart mit einem geringeren Ausländeranteil von 17,2 Prozent mit 55,2 Prozent zu.

Oder Emmen: Dort haben 58,5 Prozent der Initiative zugestimmt, während in Luzern 60,3 Prozent dagegen waren. In der Stadt leben 23,5 Prozent Ausländer, in Emmen 32,4. Ist es also doch der Ausländeranteil, der die Stimmtendenzen der Schweizer bestimmt? 

3. Der Ausländeranteil war ausschlaggebend

So einfach ist das nicht. Der Urner Hauptort Altdorf lehnte die Initiative mit 53,8 Prozent ab – und das bei einem Ausländeranteil von 13,5 Prozent. Im kleinen Dorf Spiringen hingegen fand die Vorlage mit 78,6 Prozent klare Zustimmung. Ausländeranteil: 1,8 Prozent.

In Stans muss sich ein wahrer Krimi abgespielt haben: 50,1 Prozent sagten Nein zur Initiative bei einem Ausländeranteil von 11 Prozent. Das sah das Ennetmooser Stimmvolk ganz anders. Satte 66,3 Prozent votierten für die Vorlage. Ausländeranteil: 9,3 Prozent.  

Wohin man auch blickt, das Bild wird immer diffuser: Im bündnerischen Dörfchen St. Antönien sagten 80,9 Prozent Ja zur Initiative – und das bei einem Ausländeranteil von 5,4 Prozent. Das sieht im Landwassertal ganz anders aus: Mit 52,2 Prozent Nein-Stimmen votierten die Davoser gegen die Initiative – bei einem Ausländeranteil von 25,5 Prozent.

Noch ein Beispiel aus dem Kanton Bern: In Evilard/Leubringen sagten lediglich 36,6 Prozent Ja zur Vorlage. Der Anteil der Ausländer beläuft sich auf 11,3 Prozent. Nicht so die Oberlangenegger: Sie sagten mit 82,7 Prozent Ja zur Initiative bei einem Ausländeranteil von 1 Prozent.

Freilich ist das ein sehr unscharfes Bild des Abstimmungsverhaltens der Schweizer Bürgerinnen und Bürger, doch es zeigt laut Politologe Georg Lutz klar: «Die Höhe des Ausländeranteils spielt keine oder nur eine untergeordnete Rolle.» Er spricht von der subjektiven Angst, die das Verhalten beim Urnengang bestimmt. Diese Angst habe nur in den wenigsten Fällen mit den realen Verhältnissen in den entsprechenden Gemeinden zu tun. (pbl/rar)

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