Ritalin kann hyperaktiven Kindern helfen, sich besser zu konzentrieren. Das wirkt sich wiederum positiv auf schulische Leistungen aus. Lehrer und Eltern sind also zufrieden. Doch schwelt seit Jahren ein Streit darüber, ob es auch dem Kind besser geht, wenn es täglich Tabletten schlucken muss. Neben moralischen stellen sich gesellschaftliche Fragen: Darf ein Kind überhaupt noch aufmüpfig sein oder muss es mit Medikamenten vollgepumpt und ruhig gestellt werden? Dient es in der Konsequenz der Entlastung der Lehrer und Eltern oder geht es dem Kind dank des Arzneimittels merklich besser?
Die Lehrmeinungen gehen auseinander. Und je nach Gremium, das dazu befragt wird, fällt die Antwort unterschiedlich aus. Der Bundesrat erkennt zwar eine «zunehmende Tendenz, alltäglichen Befindlichkeitsstörungen oder psychosozial problematisch erscheinenden Verhaltensweisen einen Krankheitsstatus zuzuschreiben», wie er in einem Bericht über leistungssteigernde Medikamente festhält. Dennoch ist er der Ansicht, die Behandlung mit Ritalin verlaufe in der Schweiz «adäquat».
Der UNO-Kinderrechtsausschuss sieht die Situation weniger entspannt. Er rüffelte die Schweiz erst letzten Monat wegen ihrer laxen Abgabepraxis von Ritalin an Kinder. Gemäss Angaben des Bundesrats leiden in der Schweiz drei bis fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen am Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom, kurz ADHS. Jedem vierten betroffenen Kind wird Ritalin oder ein vergleichbares Medikament verabreicht. Die Schweiz orientiert sich dabei an EU-Richtlinien, die ADHS-Störungen bereits bei Sechsjährigen zur Behandlung empfehlen. Allerdings mit Vorbehalten. So soll der Arzt, der Ritalin verabreicht, auf Verhaltensstörungen spezialisiert sein. Ausserdem soll das Medikament nur als Teil einer umfassenderen Therapie verwendet werden.
Freilich sieht die Praxis etwas anders aus. Deshalb sieht auch eine Mehrheit des Nationalrats Handlungsbedarf. Die grosse Kammer überwies eine Motion, welche die Kriterien für die Abgabe für alle Ärzte in Stein meisseln und verschärfen soll. Heute entscheidet der Ständerat darüber.
Allerdings scheint die Stimmung zu kippen. Sollte sich die kleine Kammer gegen eine Verschärfung bei der Ritalin-Abgabe aussprechen, bedeutete das auch für Kritiker keinen Weltuntergang. Die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr sagt, dass die breite Diskussion in der Öffentlichkeit bereits Früchte trage: «Die Eltern sind vorsichtiger und kundiger geworden.» Ausserdem wisse sie auch um die positive Wirkung des Medikaments: «Es gibt Kinder, denen Ritalin hilft. So kann dank der Therapie grosses Leid vermieden werden.» Oftmals gebe es aber auch Alternativen zu Ritalin, die manche Ärzte zu wenig in Betracht ziehen. «Das Medikament wird verabreicht, bloss um den Erwartungen der Eltern zu genügen.» Insgesamt zieht sie eine durchzogene Bilanz: Sie sei zwar beunruhigt, dass die Zahl der Ritalin-Patienten in der Schweiz nach wie vor hoch sei. «Doch immerhin scheint sie zu stagnieren.»
Die Stagnation widerspiegelt sich nicht bloss in den Schätzungen des Bundesrates. Der Umsatz, den der Hersteller Novartis mit dem Medikament und einem vergleichbaren Präparat gemacht hat, ist 2014 im Vergleich zum Vorjahr um 17 Prozent gesunken. 2013 erzielte Novartis mit Ritalin und Focalin noch 594 Millionen US-Dollar Umsatz, 2014 waren es noch 492 Millionen. Das heisst allerdings nicht, dass der Konsum gesamthaft zurückging. Der Verkauf von Ritalin-Generika funktioniert weiterhin. Laut Krankenkassenverband Santé suisse stagnieren die Ausgaben für den Ritalin-Wirkstoff Methylphenidat zwar bei 7,6 Millionen Franken. Sie sind aber nicht zurückgegangen.