Nasse Strähnen fallen ihr ins Gesicht, ihre nackte Haut glänzt. Verführerisch blickt das Model über die linke Schulter nach hinten. Lachend liegt ein gut trainierter Mann auf seinem Rücken. Auch seine Haut glänzt vor Schweiss. Die Hände liegen an seinen nackten Schenkeln.
Schon 2005 rief die HIV-Kampagne des Bundesamts für Gesundheit (BAG) Kritiker auf den Plan, welchen die hier beschriebenen Bilder zu explizit waren. Der stellvertretende Leiter der Abteilung übertragbare Krankheiten beim BAG, Roger Staub, erinnert sich: «Für manch einen Betrachter signalisierte vor allem der auf dem Rücken liegende Mann mit seiner dargebotenen Stellung Bereitschaft zum Geschlechtsakt.» Interessanterweise habe die verführerisch blickende Frau weit weniger Irritationen ausgelöst, so Staub.
Doch die Kritik kam 2005 nicht nur vonseiten der Politiker, Bürger oder Medien, sondern auch aus der Forschung. Die Marktforscher der Zuger Agentur MRC, die damals im Auftrag des BAG die HIV-Kampagne evaluierten, schrieben in ihren Empfehlungen: «Da die Verwendung extremer Bildwelten mit einer breiten Akzeptanz nicht vereinbar ist, empfiehlt es sich, die speziellen Zielgruppen über spezifische Kanäle direkt anzusprechen.»
Die Empfehlung stützten die Forscher auf einen Befund in ihrer Evaluation, wonach die Kampagne bestimmte Milieus nur ungenügend erreicht hat, etwa wertkonservative Menschen und «konsumorientierte Arbeiter». Eines der Ziele der HIV-Kampagnen liegt aber gerade in der Information aller in der Schweiz lebenden Personen über die Übertragungswege von HIV.
«Pornografie», kritisieren dieses Jahr die Hüter konservativer Werte die neue HIV-Kampagne. So viel Sex die Bilder von 2005 signalisierten – sie sind weniger explizit als jene, die das BAG vorgestern vorgestellt hat. Es sind Aufnahmen, worauf es bisweilen heftig zur Sache geht. Laien statt Models, so die diesjährige Devise. Sie sollen vor der Kameralinse ausleben, worauf sie gerade Lust haben, so das Konzept.
Die BAG-Bilder zeigen heuer also sogar Menschen beim Sex. Pornografisch wird im juristischen Sinne keine einzige der Aufnahmen sein, in der Wahrnehmung einzelner Menschen dagegen schon.
In der Praxis blieb die Empfehlung der Evaluatoren von 2005 also folgenlos. Wie die diesjährigen Sexbilder beweisen, sucht das BAG auch heuer möglichst grosse Aufmerksamkeit in «extremen Bildwelten», um es in den Worten der Evaluatoren zu sagen. Warum aber sind die Gesundheitsbeamten der Empfehlung nicht gefolgt? Warum sprechen sie nicht gezielt die Risikogruppen wie Schwule, Drogenabhängige oder Migranten afrikanischer Herkunft an? «Die Empfehlung von 2005 bezog sich explizit auf die Kampagne von damals. Wir sahen uns nicht veranlasst, sie für die weitere Kampagnenarbeit zu berücksichtigen», sagt Roger Staub vom BAG. Prävention bei den Zielgruppen finde parallel zur nationalen HIV-Kampagne statt. Es stelle sich aber die Grundsatzfrage: «Wie erreichen wir mit den eingesetzten zwei Millionen Franken die höchste präventive Wirkung?»
Es geht um den richtigen Mix zwischen breit gefächerten und zielgerichteten Präventionsmassnahmen. Eine Studie soll dem BAG nun Antworten zum Kosten-Nutzen-Verhältnis liefern. Dabei geht es dem BAG letztlich um eine Bevölkerung, die in der Lage ist, sich vor HIV zu schützen. Doch noch weiss der Bund nicht, wie der Nutzen solcher Präventionsmassnahmen überhaupt messbar wird. Die Studie soll auch hierzu Antworten liefern.