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Was Österreich so korruptionsanfällig macht

«Freunderlwirtschaft» – warum Österreich so korruptionsanfällig ist

Das Wunderkind Sebastian Kurz ist vorerst Geschichte, die Probleme aber bleiben: Seit Jahrzehnten leidet Österreich unter «Freunderlwirtschaft». Das System hat Kurz zwar nicht erfunden, aber perfektioniert.
11.10.2021, 11:1211.10.2021, 11:46
Christian Bartlau / t-online
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In argen Nöten: Sebastian Kurz.Bild: keystone
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t-online

«So sind wir nicht» – Trotz und Zuversicht schwangen mit, als Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen im Mai 2019 mit diesem Satz auf das Ibiza-Video reagierte. Die salbungsvollen Worte des Grünen sind schlecht gealtert: Razzien im Bundeskanzleramt und in der Zentrale der Kanzlerpartei ÖVP erschüttern das Land, Regierungschef Sebastian Kurz muss zurücktreten, weil die Korruptionsjäger der Republik gegen den mittlerweile zweifachen Ex-Kanzler wegen Untreue und Beihilfe zur Bestechlichkeit ermitteln.

Ausgelöst wurde die Polit-Lawine durch Ibiza, seit zwei Jahren wurden immer wieder hochrangige Politiker mitgerissen, darunter ehemalige und aktuelle Minister. Nun hat es also auch Kurz und seinen engsten Umkreis erwischt. Bei den Ermittlungen geht es um Bestechung, Postengeschacher, Falschaussagen – und die Details, die seit Monaten aus den Akten dringen, lassen nur einen Schluss zu: Was Rechtsaussen Heinz-Christian Strache auf Ibiza einer Fake-Oligarchin über schmierige Deals und schmutzige Tricks erzählte, enthielt vielleicht eine Überdosis Red-Bull-Wodka, aber eben auch mehr als nur ein paar Promille Wahrheit. Es war eine Einführungsvorlesung in Wiener Realpolitik.

Korruption aus Tradition

Es brauche jetzt einen Neustart, sagte die Chefin der liberalen Neos, Beate Meinl-Reisinger, am Wochenende. Die Opposition hat schon einen Untersuchungsausschuss angekündigt, auch die Strafverfahren und die weiteren Ermittlungen werden noch Brisantes aus dem Politsumpf zutage fördern. Allerdings wurde ebendieser Neustart nach Ibiza schon einmal verpasst – und bislang sieht es so aus, als würde Österreich auch dieses Mal einfach zur Tagesordnung übergehen: Sebastian Kurz sitzt trotz seines Rücktritts weiter im Maschinenraum der Macht, das notorisch verfilzte politische System bleibt unangetastet.

Als der «Stern» kürzlich nach Österreich blickte, schrieb er das unschöne Wort von der «Bananenrepublik» aufs Cover. Das österreichische Deutsch hat eine hübschere Formulierung im Angebot: Freunderlwirtschaft. Mit diesem Wort verniedlichen die Österreicher seit Jahrzehnten das problematische Geflecht zwischen Politik, Wirtschaft und Medien.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Volksparteien SPÖ und ÖVP das Land säuberlich aufgeteilt, beide hatten ihre Zeitungen, ihre Sportverbände, ihre ORF-Landesstudios, sogar ihre Pannenhelfer – der ÖAMTC gilt bis heute als ÖVP-nah, der ARBÖ wird der SPÖ zugerechnet. Posten in staatsnahen Betrieben wurden nach Parteibuch verteilt. Jörg Haider verdankte seinen Aufstieg auch dem Widerstand gegen dieses System – an dem sich seine FPÖ später eifrig beteiligte. 

Politisches Schutzgeld

Der Erfinder des Rechtspopulismus verstand es wie kein anderer Politiker seiner Zeit, mit den Medien zu spielen. Gezielte Provokationen, knackige Slogans, einstudierte Posen – genau die richtige Strategie in der «Boulevarddemokratie», wie der Politikwissenschaftler Fritz Plasser Österreich nennt. Nirgendwo sonst in Europa erreicht der Boulevard so viele Leser – Kurz und sein Team spielten ihre manipulierten Umfragen nicht zufällig über das Gratisblatt «Österreich», das über eine Auflage von 500'000 und einen eigenen Fernseh-Ableger verfügt.

ABD0140_20211007 - WIEN - �STERREICH: Bundeskanzler Sebastian Kurz (�VP) am Donnerstag, 07. Oktober 2021, im Rahmen eines Statements nach einem Gespr�ch mit Bundespr�sident Alexander Van der Bellen in ...
Bild: keystone

Typisch Kurz: Das taktische Bündnis mit den Medien hat er nicht erfunden, sondern nur auf die Spitze getrieben. Als Mastermind gilt Werner Faymann , SPÖ-Kanzler von 2008 bis 2016 und vorher als Wiener Wohnbaustadtrat der meistfotografierte Politiker der Hauptstadt – dank begleitender Inserate der Stadt Wien.

Kurz' türkis-grüne Regierung hat 2020 fast 50 Millionen Euro für Inserate ausgegeben, plus Werbung der staatsnahen Unternehmen kommt man auf rund 200 Millionen Euro im Jahr, alles aus Steuergeldern. Den Löwenanteil kassierten die drei Boulevardmedien «Österreich», «Heute» und «Krone».

«Neuer Stil» in alten Schläuchen

Was passiert, wenn man das politische Schutzgeld nicht zahlt, enthüllte Ex-Aussenministerin Karin Kneissl im Ibiza-Ausschuss im Mai dieses Jahres. Kneissl hatte 2018 von ihrem Amtsvorgänger Sebastian Kurz ein Millionen-Werbebudget übernommen und es zurechtgestutzt – prompt bezeichnete «Österreich»-Zampano Wolfgang Fellner sie in einem Kommentar als «wirr».

Ex-FPÖ-Chef Strache verspürt «keine Genugtuung»
Der nach dem Ibiza-Video von allen politischen Ämtern zurückgetretene ehemalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache verspürt nach eigenen Worten keine Genugtuung über den Sturz von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz.
«Das ist auch kein Grund für Schadenfreude», sagte der rechte Politiker am Montag dem Sender Puls 24. «Man kann vielleicht festhalten, dass das, was Sebastian Kurz gesät hat, er auch geerntet hat», fügte er hinzu. Den Rücktritt des Kanzlers bezeichnete er als «Rücktrick», da Kurz im Gegensatz zu ihm weiterhin wichtige politische Funktionen ausübe.
Er habe den 35-Jährigen, der bald Vater wird, in einem kurzen Telefonat darauf hingewiesen, dass das Wichtigste im Leben die Familie sei. «Das ist letztlich der Sinn des Lebens», sagte Strache. Der 52-Jährige hatte in dem von «Süddeutscher Zeitung und »Spiegel" im Mai 2019 veröffentlichten Ibiza-Video anfällig für Korruption gewirkt. Wenn man seine damaligen Äusserungen mit den aktuellen Vorwürfen gegen Kurz vergleiche, sei Ibiza tatsächlich nur eine Insel, sagte Strache.

Inseratenkorruption, Postengeschacher – all das wollte Sebastian Kurz eigentlich hinter sich lassen. Ein «neuer Stil», das war das grosse Versprechen seiner Wahlkämpfe 2017 und 2019. Mit den neuen Enthüllungen wird immer klarer: Kurz wollte einfach nur gewinnen, um jeden Preis. 2017 überschritt seine ÖVP die erlaubten Wahlkampfkosten um fast das Doppelte – ein Vergehen, für das Nicolas Sarkozy gerade zu einem Jahr Haft verurteilt wurde. In Österreich firmiert so etwas unter Kavaliersdelikt, die ÖVP zahlte 800'000 Euro Strafe, auch SPÖ und FPÖ verstiessen gegen die Obergrenze. In der Koalition übten sich ÖVP und FPÖ dann im alten Stil, einige Postenbesetzungen beschäftigen schon die Gerichte.

Grüne wollen Transparenz, ÖVP mauert

Wo die notorisch klamme ÖVP allerdings die rund 13 Millionen Euro für den Wahlkampf hernahm, bleibt ein Rätsel. Im Ibiza-Video schwadronierte Heinz-Christian Strache über Finanzierungswege «am Rechnungshof» vorbei, tatsächlich fanden Ermittler Spuren zu parteinahen Vereinen bei ÖVP, FPÖ und SPÖ. Für den Wiener Politikberater Thomas Hofer ist jetzt der Moment gekommen, um die Parteienfinanzierung wirklich offenzulegen. «Nach Ibiza wurde das verpasst», sagt Hofer im Gespräch mit t-online.

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Der neue Kanzler: Alexander SchallenbergBild: keystone

Die Grünen haben mit der ÖVP sowohl ein Parteienfinanzierungsgesetz als auch das Ende des Amtsgeheimnisses vereinbart, doch die Konservativen zögern – und jetzt, wo die Grünen mit ihrem Ultimatum Sebastian Kurz aus dem Kanzleramt gedrängt haben, wird die Kooperation wohl noch schwieriger.

«Kurz sitzt jetzt im Wartesaal»

Der designierte Kanzler Alexander Schallenberg gilt als Teil der türkisen «Familie» um Kurz, der als neuer Klubobmann, also Fraktionsvorsitzender der ÖVP, sogar an Kabinettssitzungen teilnehmen darf. Wenn seine engsten Mitarbeiter, gegen die ebenfalls ermittelt wird, im Kanzleramt und auch die handverlesenen ÖVP-Minister im Amt verbleiben, könnte das türkise System intakt bleiben – mit Kurz als Schattenkanzler. 

Das bedeutet allerdings nicht, dass der 35-Jährige tatsächlich ein drittes Mal ins Kanzleramt einziehen wird, meint Politikberater Thomas Hofer: «Kurz sitzt jetzt im Wartesaal, die Frage ist, ob er von dort jemals wieder abgeholt wird.» 2017 haben die mächtigen Landeschefs der ÖVP dem Aufsteiger die Partei bereitwillig ausgehändigt, ihre rote Linie ist erreicht, wenn seine Skandale ihren Erfolg gefährden: «Das könnte das Ende des Systems Kurz sein.» Und eine gute Nachricht gebe es in dieser «niederschmetternden» Affäre auch: «Die Justiz klärt die Vorgänge auf, die Medien berichten breit darüber.» Vielleicht schafft Österreich dieses Mal also wirklich den Neustart.

  • Protokoll über die Befragung von Dr. Karin Kneissl im Ibiza-Ausschuss: Hier abrufbar
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44 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Globemaster
11.10.2021 11:36registriert Juni 2020
Die Freunderlwirtschaft ist in Österreich überall in der Gesellschaft anzutreffen: bei einfachen Stellenbesetzungen, Baubewilligungen, Fahrzeugzulassungen…
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KLeeX
11.10.2021 12:58registriert Januar 2014
Genau wie in der Schweiz, da ist vieles, mehrheitlich auf Gemindeebene, genau so Korrupt.
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Madison Pierce
11.10.2021 13:47registriert September 2015
Und bei uns hat natürlich jeder Nationalrat seine Verwaltungsratssitze wegen seiner überragenden Fähigkeiten? Und der VR-Präsident der Post wurde in einem Auswahlverfahren gefunden und er ist nur per Zufall in der gleichen Partei wie die zuständige Bundesrätin?

Das geht so bis hinunter auf Ebene Gemeinde. Dort zählen dann mehr persönliche Seilschaften als die Partei-Zugehörigkeit, aber Vitamin B hilft immer.

Wir stehen im internationalen Vergleich gut da, aber nicht so gut, um vom hohen Ross herab auf andere zu zeigen.
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