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Irans Raketenangriff: Die Frage ist, wie weit die USA mitgehen

epa11634156 US President Joe Biden delivers remarks on his administration's response efforts to Hurricane Helene in the Roosevelt Room at the White House in Washington, DC, USA, 30 September 2024 ...
Joe Biden steht gegen Ende seiner Präsidentschaft nochmals vor einer grossen Herausforderung.Bild: keystone
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Weshalb die Antwort auf Irans Raketenangriff dieses Mal deutlich heftiger sein könnte

Der Nahostkonflikt ist auf Gaza begrenzt – diese Position der USA lässt sich spätestens jetzt nicht mehr halten. Wie geht die Biden-Regierung mit Irans Angriff um?
03.10.2024, 02:4303.10.2024, 14:01
Johanna Roth / Zeit Online
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Ein Artikel von
Zeit Online

Zum zweiten Mal in diesem Jahr hat der Iran Israel aus der Luft angegriffen. Diesmal waren es knapp 200 ballistische Raketen, wie im vergangenen April konnte ein grosser Teil offenbar abgefangen werden. Die Frage in den Stunden und Tagen danach ist heute dieselbe wie damals: Wie wird Israel reagieren?

Im April fiel die Reaktion verhalten aus. Mehrere Tage nach dem Angriff bombardierten die israelischen Streitkräfte vereinzelte Militärstützpunkte im Iran. Es soll massgeblich der Einfluss der US-Regierung gewesen sein, der Israel zur Zurückhaltung bewog. Man werde bei einem Vergeltungsschlag nicht mitmachen, soll Präsident Joe Biden damals Israels Premier Benjamin Netanjahu gesagt haben.

Diesmal könnte der Gegenschlag wesentlich heftiger ausfallen. Zumindest steht das Szenario zur Debatte, dass Israel nicht nur begrenzte, eher symbolische Ziele wählt, sondern etwa auf die iranische Ölförderung zielt oder womöglich sogar die Nuklearanlagen direkt bombardiert. Dies hatte zumindest Biden am Mittwochabend aber verneint.

Es klingt allgemein aber nicht so, als würden die USA vor einer harten Reaktion zurückschrecken. Im Gegenteil. «Dieser Angriff wird Konsequenzen haben, schwerwiegende Konsequenzen», sagte der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Joe Biden, Jake Sullivan. «Und wir werden dafür mit Israel zusammenarbeiten.»

Das legt nahe: Mit dem erneuten Raketenangriff auf Israel könnte der Iran sich eine von den USA unterstützte, grobe Gegenreaktion eingehandelt haben. Zumal dieser Angriff nicht mit so ausführlicher Vorwarnung kam wie jener im April und enormen Schaden hätte anrichten können: Iranische Raketen zielten unter anderem auf das Hauptquartier des israelischen Geheimdienstes Mossad, das in einer dicht besiedelten Gegend liegt, mindestens zwei schlugen offenbar ein. Im Westjordanland wurde ein Palästinenser durch das Schrapnell einer Rakete getötet.

«Hin- und Herschiessen» an der Grenze

Dass es nicht mehr Meldungen über Tote und Verletzte gab, ändert nichts daran: Der Iran hat den Konflikt auf eine neue und gefährliche Stufe gehoben. Dass nichts Schlimmeres passiert ist, sei «zu keinem geringen Teil den Fähigkeiten des US-Militärs zu verdanken», sagte Sullivan. Wieder halfen US-amerikanische Zerstörer dabei, die iranischen Raketen in der Luft abzufangen.

Auch im April hatten sich die USA an der Abwehr beteiligt. Damals gelang es, die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Nun müssen die Vereinigten Staaten abwägen, wie weit sie mitgehen bei der israelischen Vergeltung, wie auch immer sie ausfällt. Wie ernst sie machen mit dem, was Sullivan sagt: den Iran die Folgen dieses Angriffs spüren zu lassen.

Es wäre eine Abkehr von der Beobachterrolle, in welche die US-Regierung zuletzt immer mehr gerutscht ist. Als im Libanon längst Zivilisten durch Luftschläge des israelischen Militärs gegen Hisbollah-Stellungen starben, beharrte eine Sprecherin des US-Verteidigungsministeriums weiter auf der Aussage, der Konflikt sei «auf den Gazastreifen beschränkt». Zwischen Israel und dem Libanon spiele sich vielmehr ein «Hin- und Herschiessen» an der Grenze ab und nicht jene regionale Ausweitung des Kriegs, vor der die USA seit fast einem Jahr warnen.

Das dürfte sich spätestens jetzt nicht mehr halten lassen. Ein erneuter iranischer Raketenangriff auf Israel, nur Stunden zuvor der Einsatz einiger israelischer Bodentruppen im Süden des Libanon: Das zeugt davon, wie weit sich die Lage von jener diplomatischen Lösung entfernt hat, auf die die Biden-Regierung gehofft und gedrängt hat. Und stärker denn je drängt sich die Frage auf: Wo genau verläuft denn nun die Grenze zu jenem «all-out war», vor dem die USA immerzu warnen?

Netanjahu zeigte sich zuletzt kaum noch empfänglich für die Argumente und Vermittlungsversuche der USA. Er führte sie vielmehr vor und lehnte den Plan für eine Waffenruhe ab, den die Vereinigten Staaten gemeinsam mit anderen Ländern entworfen haben. Vermutlich auch, weil er Biden, der nicht erneut als Präsidentschaftskandidat antritt, nicht mehr ernst nimmt und stattdessen darauf hofft, dass Donald Trump die Wahl gewinnt.

Ob sich da jetzt etwas bewegt? Biden kündigte am Dienstag an, mit Netanjahu sprechen und über die nächsten Schritte beraten zu wollen. Wie eine Reaktion aussehen könne, werde «aktiv diskutiert».

Irans Angriff «gescheitert»

Bereits am Montag war bekannt geworden, dass die US-Regierung Tausende Soldaten und zusätzliche Kampfjets in den Nahen Osten verlegt. Dort sind bereits Zehntausende Truppen stationiert und in erhöhter Bereitschaft, wie das Pentagon mitteilte. Auslöser für die Verstärkung waren demnach die Tötung des Hisbollah-Kommandeurs Hassan Nasrallah durch einen israelischen Luftschlag in Beirut sowie das Szenario einer Bodenoffensive im Libanon. Der Schlag gegen Nasrallah hatte die US-Regierung überrascht, Verteidigungsminister Lloyd Austin erfuhr laut seiner Sprecherin in einem der täglichen Telefonate mit seinem israelischen Amtskollegen von der Operation – als diese bereits im Gange war.

Vertreter der US-Regierung, allen voran der Präsident, betonen nun, der erneute Angriff Irans sei «gescheitert». Das ist womöglich eine andere, indirektere Art und Weise des Appells an die israelische Regierung, sich bei ihrer Reaktion auch diesmal an der Bilanz des iranischen Angriffs zu orientieren – also daran, dass es nur einen Toten gab und nicht viele, wie vom Iran in Kauf genommen oder beabsichtigt. Das spräche dafür, dass die USA weiter auf das Mantra der Deeskalation setzen, auch wenn es beinahe täglich konterkariert wird.

Mitten im US-Wahlkampf

Vielleicht aber ist Biden tatsächlich offener für ein militärisches Vorgehen gegen Iran als noch vor einem halben Jahr. Das iranische Regime ist angeschlagen, seine Verbündeten von der Hisbollah durch die israelische Offensive – die Luftschläge und getöteten Kommandeure, die explodierten Kommunikationsgeräte und zur Hälfte vernichteten Waffenarsenale – geschwächt. Zerlegt man nun auch noch das iranische Atomprogramm, könnte dies in einem günstigen Moment für Biden kommen. Und für Kamala Harris, die im November gegen Donald Trump gewinnen will.

Jetzt auf

Trump hat seinen Nachfolger immer wieder wegen dessen Iranpolitik angegriffen und inszeniert sich selbst als den starken Mann gegen das Regime in Teheran. Am Dienstag prahlte er erneut, mit ihm im Weissen Haus wäre es zu dieser Situation gar nicht erst gekommen. Man muss ihn korrigieren: Ohne das Massaker der Hamas an mehr als 1'000 israelischen Zivilistinnen und die unmittelbar folgenden Angriffe der Hisbollah auf Israels Norden wäre es zu dieser Situation gar nicht erst gekommen.

Der 7. Oktober steht auch für ein geheimdienstliches und militärisches Versagen Israels. Das habe es überwunden und eine Eskalationsdominanz über den Iran und dessen selbst ernannte «Achse des Widerstands» erlangt, schreibt der Washington-Post-Kolumnist und Aussenpolitikexperte David Ignatius. Nun ist die Frage, was Netanjahu und seine Regierung aus dieser Dominanz machen – und welche Rolle die USA als wichtigste Verbündete dabei einnehmen.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.

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106 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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rodolofo
03.10.2024 06:31registriert Februar 2016
So scheusslich das alles auch ist, ich bin zum Schluss gekommen, dass die Taktik von Netanyahu, einem "Ende mit Schrecken" gegenüber dem (bisherigen) noch unerträglicheren "Schrecken ohne Ende" den Vorzug zu geben, am Ende doch die richtige sein könnte.
Und wenn ich zwischen einer Israelischen Dominanz im Nahen Osten und einer Iranischen Dominanz wählen könnte, wäre mir sehr klar, dass ich mich sicher NICHT für den Steinzeit-Islamismus (mit modernster Raketentechnologie) der Iranischen Mullahs und ihrer palästinensischen-, libanesischen- und jemenitischen Proxies entscheiden würde.
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Berner_in
03.10.2024 06:28registriert September 2018
Ich mag mir gar nicht vorstellen, wenn in diese äusserst explosiven Lage in nahen Osten ein erratischer und völlig unberechenbarer Trump zum Präsidenten gewählt würde.
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Max Dick
03.10.2024 07:11registriert Januar 2017
Ich hoffe sehr, dass jetzt ein harter Schlag gegen das gesante iranische Atomprogramm geführt wird. Alles andere wäre verantwortungslos.
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