Ein Hauch von Revolution liegt in der Luft. Die Bewegung der «Gilets Jaunes» ist in Frankreich wie aus dem Nichts aufgetaucht und hält das Land mit teilweise gewalttätigen Kundgebungen in Atem. Der Aufstand der «kleinen Leute» aus der Provinz, die sich von der Regierung und der Pariser Elite verraten fühlen, erregt die Gemüter. Und beflügelt progressive Träume.
Frankreichs linke Intellektuelle sehen in den Protesten der «Gelbwesten» eine Chance, das Land in ihre Richtung zu lenken. «Diese Bewegung muss weitergehen. Weil sie etwas Richtiges, Dringendes, Radikales verkörpert», schrieb der Schriftsteller Édouard Louis, der selber aus einfachen Verhältnissen stammt, in einem stark beachteten Essay.
Sein Freund, der Philosoph und Soziologe Geoffroy de Lagasnerie, unterstützt die Bewegung «voll und ganz», wie er im Interview mit der «Wochenzeitung» erklärte. Er glaubt an die Möglichkeit, den «ideellen Kampf um diese Leute» zu gewinnen: «Die Rolle der Linken ist es, die Bewegung zu umarmen, eine Verbindung zu ihr herzustellen und sie ins progressive Lager zu holen.»
Solche idealistische bis paternalistische Vorstellungen sind typisch für viele Linke und ihren Hang zur Revolutionsromantik. Die problematischen Aspekte der «Gilets Jaunes» werden von de Lagasnerie und Co. nicht ausgeblendet, aber kleingeredet: Rassistische und homophobe Parolen in den sozialen Medien, widersprüchliche Forderungen wie tiefere Steuern und höhere Renten.
Die «Gelbwesten» sind eine heterogene Bewegung, die sich bislang der politischen Vereinnahmung entzogen hat. In ihr mischen sich Menschen, die sich in einer echten sozialen Notlage befinden, mit linken und rechten Unruhestiftern. Sie ist Ausdruck des Wutbürgertums, das sich in vielen Ländern manifestiert und sich als immun gerade gegen linke Vereinnahmungen erwiesen hat.
Das beschränkt sich nicht auf die Fremden- und Islamfeindlichkeit, die von den ominösen russischen Trollfabriken angeheizt werden soll. Die Bewegung ist auch geprägt von Misstrauen bis Ablehnung gegenüber den Medien. Dies erlebte meine Kollegin Camille Kündig, die sich am letzten Samstag in Paris ins Getümmel gestürzt und live von den Ausschreitungen berichtet hat.
Voici comment des gilets jaunes insultent et menacent des journalistes sur les réseaux sociaux #GiletsJaune #suisse #journalism @watson_news pic.twitter.com/9Aiz4JK8Dp
— Camille Kündig (@CamilleKundig) December 5, 2018
In Kontaktversuchen auf der Strasse und im Internet wurde sie mit «freundschaftlichen» Warnungen und offener Feindseligkeit konfrontiert. Das liebste Feindbild der «Gilets Jaunes» ist der Privatsender BFM TV. In Paris erlebte Kündig, wie Kollegen bespuckt und mit Eiern beworfen wurden. Es ist die französische Variante von «Lügenpresse halt die Fresse!».
Ein weiteres problematisches Phänomen manifestierte sich nach dem Terroranschlag in Strassburg. In den Foren der Bewegung kursierte die Verschwörungstheorie, wonach die von einem radikalisierten Kleinkriminellen verübte Bluttat von der Regierung inszeniert worden sei, um den Elan der «Gelbwesten» zu stoppen.
Solche kruden Ideen mögen nur einen Teil der Bewegung erfassen, aber einzelne Facebook-Gruppen mussten deswegen ihre Kommentarfunktion einschränken. Sie könnten auch die anfangs hohe Zustimmung in der Bevölkerung erodieren lassen, die bereits nach den Zugeständnissen rückläufig war, die Präsident Emmanuel Macron am Montag angekündigt hat.
Seine Fernsehansprache führte zu ersten Spaltungstendenzen bei den «Gelbwesten». Es ist möglich, dass die Bewegung mit der Zeit und auch aufgrund der anstehenden Feiertage an ihrer Widersprüchlichkeit zerbricht. Der für Samstag angekündigte «Akt 5» mit weiteren Kundgebungen wird ein Indiz dafür liefern, wie viel Rückhalt die Bewegung noch hat.
Denn ein Aspekt wird oft übersehen: Frankreich ist eigentlich ein konservatives Land. «Man will sich revolutionär verhalten, aber sobald es Zeit für die Veränderungen ist, verhält man sich reaktionär», sagte der Freiburger Professor Gilbert Casasus im Interview mit watson. Das zeigte sich auch im legendären Mai 1968, mit dem die heutige Protestbewegung oft verglichen wird.
Auch damals lag für kurze Zeit ein Hauch von Revolution in der Luft, als sich die Studenten mit den Arbeitern verbündeten. Am Ende war der «Aufstand» ein Fehlschlag, es kam zum Backlash der Bourgeoise, die in Paris zur Gegendemo auf die Strasse ging. Präsident Charles de Gaulle drohte mit dem Ausnahmezustand und setzte Neuwahlen an, bei denen seine Partei zulegen konnte.
Mit der Zeit aber setzten sich viele Forderungen der 68er Bewegung durch. Man kann und muss hoffen, dass auch die gelben Warnwesten als Warnsignal verstanden werden. Das beginnt bei Emmanuel Macron, der seinen Hang zu überheblichen Sprüchen und seinen Ruf als «Präsident der Reichen» loswerden und seine notwendige Reformpolitik sozial abfedern muss.
Ausserdem bedarf Frankreich der politischen Reformen. Der elitäre Zentralismus, mit dem das Land regiert wird, hat sich überlebt. Wenn die «Gelbwesten» von Referenden wie in der Schweiz sprechen, geben sie die Richtung vor. Es ist bezeichnend, dass die linken Intellektuellen, die selber dem Elitedenken frönen, diesen Aspekt praktisch nicht thematisieren.
Der Protest hat aber eine weit über Frankreich hinaus reichende Dimension. Er ist Ausdruck einer real existierenden Misere: Viele Menschen aus dem Mittelstand kämpfen gegen den sozialen Abstieg. Der Slogan «Ihr redet vom Ende der Welt, wir vom Ende des Monats», mit dem die «Gelbwesten» die Ökosteuer auf Benzin bekämpften, bringt diese Befindlichkeit auf den Punkt.
In den USA haben die Ängste vor dem Niedergang Donald Trump an die Macht gespült. Und mit der fortschreitenden Digitalisierung wird sich das Problem verschärfen. Viele solide Industrie- und Bürojobs werden von Automaten und Algorithmen ersetzt. Was sich in den letzten Wochen in Paris und anderen Städten ausdrückte, könnte nur der Anfang einer gefährlichen Entwicklung sein.
Die Politik ist gefordert, sie muss Wege finden, um dem Mittelstand eine Perspektive zu bieten. Das kann eine Digitalsteuer sein, ein bedingungsloses Grundeinkommen. Nichtstun ist dabei so wenig eine Option wie linke Revolutionsromantik. Ein Scheitern oder gar Sturz Macrons wird kaum den Linksaussen Jean-Luc Mélenchon an die Macht bringen, sondern die Rechtsextreme Marine Le Pen.