Der Protest ist kreativ: Demonstrantinnen und Demonstranten halten weisse Papierblätter hoch, unbeschrieben.«Wir wollen keine PCR-Tests, wir wollen Freiheit», rufen sie. «Hebt den Lockdown auf.» In China gehen erstmals seit 1989 wieder Menschen auf die Strasse. Letzter Auslöser war ein Wohnhausbrand in Urumqi mit mindestens zehn Toten.
Die Demonstrationen richten sich gegen die Behörden und die willkürliche, das persönliche Leben bedrängenden Null-Covid-Politik der Regierung. Nicht nur in der Hauptstadt Peking wird protestiert, auch in anderen Millionenstädten, Shanghai, Chengdu, Chongqing, Wuhan oder Nanjing. Der Aufstand der Bürgerinnen und Bürger ist ein Symbol dafür, dass die in China regierende Kommunistischen Partei (KP) gerade an ihre Grenzen stösst.
Dabei hatte die staatlich verordnete strikte Null-Covid-Strategie lange funktioniert. Der Preis war (und ist bis heute) die Abschottung Chinas vom Rest der Welt, dafür konnten sich die Bürgerinnen und Bürger weitgehend frei bewegen. Doch mit der hochinfektiösen Omikron-Variante des Virus geht diese Strategie nicht mehr auf.
Das Virus breitet sich gerade in den Städten Chinas aus. Während sich der Rest der Welt öffnet, weil dank umfangreicher Impfkampagnen oder durch Masseninfektionen ein Immunschutz vorliegt, ist beides in China unzureichend oder gar nicht vorhanden: Nur 40 Prozent der Über-80-Jährigen sind ausreichend geimpft, zugleich verfügt Chinas Gesundheitssystem über zu wenig Intensivbetten. Das Land wäre nicht in der Lage, einen Massenausbruch zu beherrschen.
Die chinesischen Behörden reagieren auf Omikron also wie gehabt – mit dem Absperren von Wohnblocks und Vierteln, Massentests und Zwangsquarantäne. Doch nach fast drei zermürbenden Pandemie-Jahren wollen viele Menschen das nicht mehr. Der Unmut in der Bevölkerung ist gross, deswegen richten sich die Proteste inzwischen auch direkt gegen die Verursacher der Strategie: gegen die seit 1949 herrschende KP und ihren Vorsitzenden Xi Jinping.
Zwar sind es – im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung – verschwindend geringe Zahlen an Menschen, die auf die Strassen gehen. Aber das hat erst mal nichts zu sagen für eine Gesellschaft, die von der herrschenden Kommunistischen Partei scharf kontrolliert wird. Wer in China gegen die Politik demonstriert, muss Schikane befürchten, dazu gehören alle möglichen Nachteile bis hin zu gewalttätiger Drangsalierungen und Inhaftierung. Es gibt zudem keine Meinungs- und keine Pressefreiheit, der KP-Staat versucht alles zu kontrollieren.
Diese Kontrolle hat in der Pandemie sogar noch einmal drastisch zugenommen: Es wurden Kontrollsysteme über Smartphone-Apps eingeführt und verfeinert, auch der digitale Gesundheitscode ist so ein Überwachungsinstrument. Geblieben ist die ganz analoge Form der Kontrolle: Geheimpolizisten tauchen überall gern mal auf. Die Bürgerinnen und Bürger erkennen sie in der Regel schnell und das ist staatlicherseits wohl auch gewünscht – es erhöht den Druck, sich konform zu verhalten.
Auch bei den Protesten waren die Geheimpolizisten. Demonstrationen gegen die Politik kratzen schliesslich immer auch an der Legitimität der KP. Legitimität hat die Partei über Jahrzehnte aus dem kolossalen BIP-Wachstum Chinas gewonnen. Das wurde möglich, weil nach der kulturrevolutionären Zeit unter Mao Zedong wieder privat gewirtschaftet werden durfte. Und dass die Kaufleute und Unternehmerinnen und Unternehmer ihr Freiheiten geschickt und erfolgreich zu nutzen wussten. Der wirtschaftliche Erfolg Chinas begann in den Achtzigerjahren in den südöstlichen Küstenprovinzen, als Deng Xiaoping dort die Marktkräfte entfesselte – die Geburtsstunde des Exportbooms.
Vieles wurde ausprobiert in Sonderwirtschaftszonen, die extra für das neue Kapitalismusexperiment eröffnet wurden. Eine weitere Säule für Chinas Wachstum waren staatlich lancierte Infrastrukturprogramme. Es wurden Brücken, Eisenbahnen, Flughäfen und Highways gebaut. Gebaut wurde auch massenhaft Wohneigentum, in das die Bürgerinnen und Bürger ihre Ersparnisse investieren. Doch der Immobilienmarkt bricht gerade zusammen, in Zeitlupe zwar, spürbar sind die Auswirkungen dennoch. Grosse Immobilienentwickler haben Geld ihrer Anlegerinnen und Anleger verzockt. Das schürt Wut und es gab bereits Proteste betroffener Bürger.
Wachstum und der Freiraum, sich persönlichen Wohlstand zu erschaffen – das waren lange Zeit eine erfolgreiche Herrschaftslegitimation für die KP. Der Deal war: Die Bürgerinnen und Bürger hatten sich politisch still zu verhalten, dafür durften sie frei wirtschaften und wurden von der Partei weitgehend in Ruhe gelassen. Heute ist das anders: Neue Infrastruktur beispielsweise wird eigentlich nicht mehr so richtig gebraucht. Dafür müssen Privatunternehmen jetzt eine KP-Zelle in ihren Betrieben akzeptieren, die im Zweifel auch in die Firmenpolitik hineinreden kann.
Vor allem ist durch die Null-Covid-Strategie das BIP-Wachstum eingebrochen: Offiziell von rund acht Prozent 2021 auf prognostiziert 3.2 Prozent im Jahr 2022. Die Abschottungen treffen jeden, auch globale Lieferketten sind dadurch gestört. Inzwischen sind offiziell 20 Prozent der jungen Bevölkerung arbeitslos, vermutlich liegt die reale Zahl sogar doppelt so hoch. Und bis heute gibt es in China keinen besonderen Binnenkonsum, die Menschen sparen lieber.
Das Beharren auf Null-Covid ist daher ein gigantischer Fehler der Parteiführung. Chinas Gesellschaft und Wirtschaft stecken in einer Falle – verschuldet von einer autoritären Herrschaftselite, die ihre Fehler nicht sehen will oder nicht sehen kann. Ein weiteres Symptom dafür, dass das KP-Herrschaftssystem feststeckt.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.