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Die SPD blickt in den Abgrund – und sucht eine Antwort auf die AfD

Arbeiter bringen am 06. November 2023 Plakate aus einer Werbekampagne der BILD in Berlin an. Ein Arbeiter auf Leiter ist direkt vor dem Gesicht des Bundeskanzler Olaf Scholz.
Erst in der Arbeiterbewegung erwachte erstmals ein linkes politisches Bewusstsein. Jetzt wählen Arbeiter die rechtsextreme AfD. Was ist passiert?archivBild: imago-images.de
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Wie die deutschen Sozis gegen den Untergang kämpfen (oder auch nicht)

Die klassischen SPD-Anhänger, die Arbeiter, wählen im ostdeutschen Thüringen inzwischen rechts. Antworten finden die Genossen bislang keine – ja nicht einmal mehr Empörung.
22.08.2024, 21:1223.08.2024, 07:26
Ferdinand Otto / Zeit Online
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Ein Artikel von
Zeit Online

Der Klassenkampf hat die Seiten gewechselt, von links nach rechts. Die Arbeiter drehen ihrer ehemals natürlichen Vertreterin, der Sozialdemokratie, den Rücken zu – und wählen in Scharen die AfD. Zurück bleibt eine SPD, die nach einer heftigen Niederlage bei der EU-Wahl nun in Ostdeutschland in den Abgrund schaut. Und die sich fragt: Was ist da nur passiert?

Bei der Wahl zum EU-Parlament wählten unter den Arbeitern gerade noch zwölf Prozent die SPD, gegenüber 33 bei der AfD. Zur Bundestagswahl vor drei Jahren lag die SPD noch vorn. Während die AfD an den 30-Prozent kratzt.

Längst geht es für die Genossen ums parlamentarische Überleben. Neben Sachsen auch in Thüringen, also dem Bundesland, in dem die SPD einst gegründet wurde – und in dem die ehemalige Volkspartei am 1. September sogar aus dem Landtag fliegen könnte. Umfragen sehen sie noch zwischen sechs und sieben Prozent.

Dafür mag es Thüringer Ursachen geben. Aber ebenso schlägt in Ostdeutschland ein internationaler Trend durch: In Österreich führt die rechtspopulistische FPÖ unter Arbeitern. Didier Eribon beschrieb schon 2009 in Die Rückkehr nach Reims, wie ganze industriell geprägte Landstriche, ehemals stramm links, in Frankreich dem Rassemblement National anheimfielen.

Den Schaden der AfD-Politik haben die AfD-Wähler

Arbeiter ohne Hochschulabschluss in den ehemaligen Kohle- und Auto-Staaten waren es, die Donald Trump ins Weisse Haus wählten.

Auf dem Parteitag der Republikaner sorgte vor wenigen Wochen der Chef der mächtigen Transportgewerkschaft International Brotherhood of Teamsters für Aufsehen mit einem Gastauftritt. Der Milliardär und seine Malocher: Die Trennschärfe der alten Klassenkampflinien von Kapital und Arbeit schwindet.

Und das, obwohl gut dokumentiert ist, dass Trump im Zweifel Politik für seine Country-Club-Freunde macht, den Superreichen die Steuern kürzt, aber nicht im Sinne der Angestellten regiert. In einem Gespräch mit Elon Musk etwa lobte er kürzlich erst dessen ruchlose Entlassungspraxis – was Trump immerhin eine Klage einer Autoarbeiter-Gewerkschaft einbrachte.

Ganz ähnlich die FPÖ, die in der Regierung mit der ÖVP die Arbeitszeiten für Arbeitnehmer erhöht und flexibilisiert hat. Und auch ansonsten nicht als Arbeitervertreterin auffiel. Die Politik der AfD wiederum würde ebenfalls vor allem den Menschen schaden, die sie wählen.

Eine politische Kraft ohne Wirt

Die sogenannten kleinen Leute wählen also nicht mehr nur nicht links. Sie wählen im Zweifel sogar lieber explizit gegen ihre eigenen Interessen.

Frappierend: Spricht man jetzt nach der EU-Wahl, am Vorabend wichtiger Landtagswahlen, mit Genossen, ist es mindestens so schwer, jemanden zu finden, der darauf eine eingängige Antwort hätte, wie einen Sozialdemokraten aufzutreiben, der sich noch ernsthaft empört.

Hier scheint nicht nur eine Zweckallianz zweier Akteure auseinanderzugehen, der Arbeiter und ihrer klassischen Repräsentanten (die Beamten, die sich die SPD zwischenzeitlich unter Willy Brandt erschloss, wählen inzwischen die Grünen). Vielmehr steht eine politische Kraft plötzlich ohne ihren Wirt da – und hat keinen Plan, wie sie ihn zurückbekommen sollte. Erst in der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert erwachte erstmals so was wie ein linkes politisches Bewusstsein.

Die Arbeiterbewegung sei deshalb eigentlich immer eine linke gewesen, argumentiert auch Jürgen Schmidt. Der Historiker arbeitet für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung und leitet in Trier das Karl-Marx-Haus, ein Museum, untergebracht im Geburtshaus des Arbeiterrevolutionärs. 

Wenn Gefühle regieren

Schwer tat sich die Bewegung schon damals auf dem Land. Ausserdem organisierten sich konservative, strikt antisozialdemokratische Arbeiter in evangelischen Arbeitervereinen. Die spielten aber allein zahlenmässig nicht in derselben Liga wie die linken Arbeiter. «Zentral für die junge Arbeiterbewegung war immer auch das Gefühl von Ungleichheit und Ungerechtigkeit», sagt Schmidt. Es ging, neben materiellen Verbesserungen an der Werkbank, stets um Stolz, Wertschätzung.

Und damit zurück in die Gegenwart nach Erfurt. Der Generalsekretär der SPD, Kevin Kühnert, ist gekommen, um den Genossen vor Ort im Wahlkampf zu helfen. Die feuern auf einem Platz in der Altstadt gerade den Grill an, Thüringer Würste liegen bereit, Kühnert steigt auf eine kleine Bühne und greift das Mikrofon. Ein paar Dutzend Parteifreunde und Passanten haben auf Bierbänken und Liegestühlen Platz genommen und hören, wie Kühnert für den Vergabemindestlohn bei öffentlichen Ausschreibungen wirbt. Und für höhere Renten und kostenlose Schulessen.

Die Tragik: Die, die das adressiert, die davon profitieren würden – die hören Kühnert schon gar nicht mehr zu. Ein Beispiel: Im Landkreis Sonneberg arbeiten 44 Prozent der Beschäftigten zum Mindestlohn. Nirgends sonst in Deutschland profitierten folglich die Bewohner so stark davon, als die SPD durchboxte, dass die Lohnuntergrenze auf zwölf Euro stieg. Aber statt eines Sozialdemokraten wählten sie in Südthüringen den ersten Landrat der AfD.

Aus Ressentiment Selbstachtung machen

Wie damit umgehen, wenn einem die Wähler erst nichts danken und dann auch noch die AfD wählen? Was sagt das über das Programm der SPD? «Das ist und bleibt richtig, völlig unabhängig, ob das jetzt verfängt oder ob andere Sachen wahlentscheidend sind», sagt Kühnert im Gespräch mit ZEIT ONLINE.

Es gebe eine wachsende Gruppe von Menschen, «die sind der Überzeugung, dass Wahlentscheidungen zuletzt keinen Unterschied gemacht haben», sagt Kühnert. Da müsse die Politik auch selbstkritisch konstatieren: «Das ist ein Gefühl, dem wir mit Zahlen, Daten, Fakten, mit Bilanzlisten allein nicht beikommen konnten.»

Viel mehr noch als vor 150 Jahren in den ersten Arbeitervereinen scheinen also Gefühle Politik zu machen. Vielleicht hatte also der Philosoph Peter Sloterdijk doch recht, als er im Zorn die zentrale Triebkraft der Geschichte ausmachte. Er forderte schon 2008: Aufgabe der Linken sei es, aus Ressentiment durch «Alchemie Selbstachtung» zu machen – und sagte präzise an dieser Bruchkante das Entstehen einer neuen faschistischen Bewegung vorher.

Mit Alchemie ist es offensichtlich nicht weit her. Es regiert vielmehr die Kränkung. Der Jenaer Soziologe Klaus Dörre konstatierte in einen Interview zuletzt mit Blick auf den Osten: «Hier fühlen sich viele gleich dreifach abgewertet: als Arbeiter, als Ossi, als Mann.»

Dörre forscht an der Friedrich-Schiller-Universität zu den Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie. Die Erfolge der AfD in der Arbeiterschicht fand er, nicht nur, aber eben besonders, im «altindustriell geprägten» Ostdeutschland erwartbar.

Die AfD bediene das Bedürfnis nach Anerkennung. An die Stelle von oben und unten setze sie den Konflikt von innen und aussen. Anderen Parteien macht er keine grosse Hoffnung: «Gewerkschaften sind die einzigen zivilgesellschaftlichen und demokratischen Organisationen, die diese Arbeiter überhaupt noch erreichen.»

Nachfrage also beim Gewerkschaftsfunktionär. Denny Möller ist Bezirksvorsitzender bei ver.di in Thüringen, sitzt für die SPD im Landtag, kandidiert erneut in Erfurt und hat die Marktplatzsause mit Kühnert organisiert.

Jetzt auf

Man merkt ihm den Schmerz bei dem Thema an. Trotzdem hat er Hoffnung. Er berichtet von einer Tour durch die Betriebsräte zahlreicher Unternehmen, wie die Arbeiter mal Dampf ablassen wollten. Er habe Klartext eingefordert. Und am Ende stand das Feedback der Beschäftigten: «Wenn Politik immer so wäre, wie wir das jetzt gerade gemacht haben …». Seine Partei schaffe es oft nicht, in diesen «Nahbereich» zu kommen, wo sich dann doch im persönlichen Kontakt viele Spannungen auflösten.

Allerdings, und da ist Möller überzeugt: Um da wieder hinzukommen, müsste seine Partei erst mal wieder in die Opposition. Gut möglich, dass wenigstens dieser Teil der Gleichung demnächst passt.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.

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132 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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butlerparker
22.08.2024 21:31registriert März 2022
1 ZON Artikel,nun ja,es schweigt des Sängers Höflichkeit.Historisch gesehen gab es schon einmal eine "Arbeiterpartei" ganz rechts,die NSDAP,die nationalSOZIALISTISCHE Deutsche ARBEITER Partei.Glücklich ist,wer vergisst.Das Schema war ähnlich wie heute.Was für viele damals die Schmach von Versailles war,ist heute für viele Ostdeutsche die Wiedervereinigung.
Es geht wieder das Wort um:"Wer hat euch verraten?Die Sozialdemokraten".

Was erwartet die SPD eigentlich,wenn Gender statt sozial,wenn Migration statt Infrastuktur.

Und mit einem Olaf Scholz ist halt auch wenig Staat zu machen
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Anfield_
23.08.2024 06:28registriert November 2021
Solange sich die Linken mit Problemen rumschlagen, die für 99% der Bevölkerung nicht relevant sind, wird sich an der Situation nichts ändern.
- Krankenkassen
- Mieten
- Migration
- Fehlende Integration
- Islamismus

Solange das ganze Ausländerthema den Rechten überlassen wird, hat die Linke (leider) keine Zukunft. Das Augenverschliessen wird von der Bevölkerung nicht goutiert.
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poga
23.08.2024 05:53registriert November 2014
Die SPD scheint das gleiche Problem wie der Verfasser dieses Artikels zu haben. Der Glaube, sie wüssten besser, was die arbeitende Bevölkerung braucht oder sich wünscht.
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