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Brexit-Geständnis eines Labour-Abgeordneten: «Wir sind ahnungslos»

Lawmakers in the House of Commons, London, with Britain's Prime Minister Theresa May at center right front row, Tuesday March 12, 2019. With just 17 days to go, Britain's departure from the  ...
Überfordert, machtlos, verängstigt: Das Unterhaus in London.Bild: AP/UK Parliament

Abgeordneter packt aus – so dramatisch ist die Brexit-Situation wirklich

Ein anonymes Labour-Mitglied hat ein Brexit-«Tagebuch» verfasst. Es ist ein erschütterndes Dokument eines verwirrten und hilflosen Parlaments und einer verbunkerten Premierministerin, die aus dem Tag heraus regiert.
27.03.2019, 12:1027.03.2019, 12:42
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Im zunehmend traumatischen Brexit-Prozess ist einmal mehr das britische Parlament am Zug. Es stimmt am Mittwochabend über eine Reihe von nicht bindenden Anträgen ab. Zur Debatte stehen etwa eine zweite Volksabstimmung oder eine Zollunion mit der EU. Beobachter zweifeln, dass danach Klarheit herrschen und einer der Anträge überhaupt eine Mehrheit erreichen wird.

Was vor bald drei Jahren mit einer simplen Abstimmung über den Austritt oder Verbleib in der Europäischen Union begann, hat zu einer heillosen Überforderung der britischen Politik geführt, die in letzter Konsequenz die Demokratie beschädigt. Dies zeigt das «geheime Tagebuch» eines anonymen Labour-Mitglieds, das die Londoner «Times» am Dienstag veröffentlicht hat.

Um ein Tagebuch im eigentlichen Sinne handelt es sich nicht. Der oder die Abgeordnete – das von der «Times» verwendete Icon deutet auf einen Mann hin – schildert vielmehr, wie «beschämt, erniedrigt und enorm, ja überwältigend frustriert» er oder sie sich in diesem Brexit-Irrsinn fühle.

«Ich möchte Verantwortung übernehmen und eingebunden werden, doch ich sitze nutzlos und hilflos herum, gefangen in einem Unterhaus, das in einer Zeit der nationalen Krise zerfällt.»

Der Labour-Anonymous hat für die EU gestimmt, vertritt aber einen Wahlkreis, der klar für den Austritt war. Das trifft auf nicht wenige in seiner Fraktion zu. Um seinen Wahlkreis kümmern kann er sich derzeit nicht, denn fast jede Woche müsse er in Westminster präsent sein, ohne zu wissen, was genau ablaufe. So ergehe es nicht nur den Labour-Leuten, sondern auch den meisten Tories.

«Es dreht sich alles um eine Frau, die Premierministerin, und die hat sich so tief verbunkert, dass niemand an sie herankommt.»

Er habe mit ranghohen Tory-Kollegen gesprochen in der Hoffnung, dass sie ihm versichern würden, Theresa May sei eine «fantastische Pokerspielerin», die sich mit brillanten Köpfen berate und das Land mit sicherer Hand führe. Zurückgekommen sei nichts dergleichen.

«Ihr Masterplan ist anscheinend, bis zum nächsten Tag zu überleben. Wen das nicht mit Schrecken erfüllt, den kann gar nichts ängstigen.»

Die Lähmung bei den Konservativen wäre ein Chance für Labour, als starke Opposition die Initiative zu ergreifen. Doch das geschehe nicht, seine Partei sei genauso zerrissen, schreibt der Anonymous. Parteichef Jeremy Corbyn sei vollkommen ambivalent und versuche, es allen recht zu machen. Was wiederum den Tories gefällt, wie eine Aussage aus ihren Reihen zeigt:

«Es ist sagenhaft. Wir produzieren eine Sch... nach der anderen. Diese Regierung ist eine Katastrophe, doch jedes Mal, wenn wir es verbocken, rettet ihr uns, indem alles noch schlimmer macht.»

Wirklich schlimm aber ist für die anonyme Labour-Stimme das Gefühl von «Finsternis, Machtlosigkeit und Furcht». Man wisse, dass man etwas beitragen könnte und würde dafür bis zum Umfallen arbeiten. Stattdessen müsse man ständig befürchten, dass wieder etwas schief laufe. Die «erschreckende Wahrheit» sei, dass die demokratischen Strukturen auf Sand gebaut seien.

«Die meisten von uns sind so verwirrt wie alle ausserhalb des Parlaments.»

Das anonyme Dokument ist vielleicht eine Art «Racheakt» an Theresa May, die letzte Woche dem Unterhaus die Schuld an der Brexit-Blockade in die Schuhe geschoben hat. Im Endeffekt ist es ebenso eine Bankrotterklärung der gesamten britischen Politik wie die Multipack-Abstimmung vom Mittwoch.

TV-Tipp
SRF1 zeigt am Donnerstag um 22.55 Uhr das Channel-4-Dokudrama «Brexit – Chronik eines Abschieds» (im Original treffender «The Uncivil War» genannt) mit Benedict Cumberbatch. Hier die Rezension von watson.
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21 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Gurgelhals
27.03.2019 12:24registriert Mai 2015
Meine Prognose für die Indicative Votes heute Abend: Keine Option (oder zumindest: keine der plausiblen Optionen) findet eine Mehrheit, weil es keine Option gibt, die im heillos zerstrittenen Unterhaus eine Mehrheit finden kann. Kurz: Man wird heute Abend nicht schlauer sein als vorher.

Am Ende läuft es wohl darauf hinaus, dass entweder das Parlament im allerletzten Moment noch kalte Füsse bekommt und, um Schlimmeres zu verhindern, dem Austrittsabkommen doch noch zustimmt oder Artikel 50 zurücknimmt ... oder der UK schlittert am 12. April unkontrolliert in einen harten Brexit hinein... 😕
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Tepesch
27.03.2019 18:34registriert Oktober 2015
Die Briten könnten ja erst den Austritt zurückziehen und dann gleich einen erneuten Austritt verkünden. Dann gibts wieder 2 Jahre Verhandlungszeit 😂😂
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Angelo C.
27.03.2019 13:39registriert Oktober 2014
Ich denke, auch wenn dieser Schritt den meisten Parlamentariern zuwider läuft, dass man zu guter Letzt doch eine zweite Volksabstimmung durchführen wird.

So können diese verunsicherten und zu keinem wirklichen Entschluss fähigen Politiker die verantwortliche Entscheidung auf das Volk abwälzen.

Grössere Teile davon protestieren eh gegen den Brexit auf den Strassen. Gleichzeitig würde das Parlament in Brüssel Zeit gewinnen, denn so eine zweite Volksabstimmung kann auch nicht von heute auf morgen abgehalten werden.

Ob meine Vermutung eintritt wird, sich wohl erst in den nächsten Tagen weisen.
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