Britanniens rechte Medien jubilierten. «Theresa's Triumph» titelte etwa das besonders rabiate Revolverblatt «Daily Mail». Nach dieser Lesart hat die konservative Premierministerin Theresa May in der x-ten Brexit-Debatte im Unterhaus am Dienstag einen glänzenden Sieg errungen. Sie könne mit Rückendeckung des Parlaments in Brüssel einen neuen und besseren Brexit-Deal aushandeln.
May selbst unterstrich ihren vermeintlichen Triumph: «Es ist jetzt klar, dass es einen Weg zu einer tragfähigen und nachhaltigen Mehrheit dafür gibt, die EU mit einem Deal zu verlassen.» Brüssel allerdings reagierte postwendend und mit Ablehnung: Nachverhandlungen seien ausgeschlossen, insbesondere über die irische Frage, erklärte ein Sprecher von EU-Ratspräsident Donald Tusk.
Wednesday's Mail: "Theresa's Triumph" pic.twitter.com/l4p1TanvMq #BBCPapers #tomorrowspaperstoday (via @BBCHelenaLee)
— BBC News (UK) (@BBCNews) 29. Januar 2019
Die irische Frage. Sie ist zum eigentlichen Stolperstein für den Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union geworden. An der einzigen Festlands-Grenze des Königreichs zwischen Nordirland und der Republik Irland gibt es heute weder Personen- noch Warenkontrollen. Das soll möglichst so bleiben, sind sich beide Seiten einig. Am Wie aber scheiden sich die Geister.
Falls es am 29. März zu einem «geregelten» Brexit kommt, beginnt eine Übergangsphase bis Ende 2020. In dieser Zeit sollen London und Brüssel ein neues Handelsabkommen erarbeiten. Gibt es bei der Grenzfrage keine Einigung, tritt der Backstop in Kraft. Diese Auffanglösung sieht vor, dass Grossbritannien in der Zollunion mit der EU verbleibt und Nordirland zusätzlich im Binnenmarkt. Damit sollen der freie Warenverkehr und die offene Grenze garantiert werden.
Für die Brexit-Hardliner ist der Backstop inakzeptabel. Er verhindert, dass Grossbritannien eigene Freihandelsverträge abschliessen kann. Eine Alternative wäre, den Backstop auf Nordirland zu beschränken. Dagegen aber wehrt sich die Unionistenpartei DUP vehement, auf deren Stimmen Theresa May im Unterhaus angewiesen ist. Die DUP will keine Zollgrenze in der Irischen See, die das Königreich spalten und die Vorstufe zur irischen Wiedervereinigung bilden könnte.
Als Geste an May betont die EU, der Backstop solle nur im absoluten Notfall zur Anwendung kommen. Den Hardlinern genügt dies nicht. Sie könnten allenfalls damit leben, dass die Auffanglösung zeitlich befristet wird oder die Briten sie einseitig aufkündigen dürfen. Die Republik Irland will davon nichts wissen.
Personenkontrollen sind in der aktuellen Debatte kein Thema. Grossbritannien und Irland sind dem Schengener Abkommen nicht beigetreten und können diesen Aspekt folglich bilateral regeln. Es geht somit «nur» um Zollkontrollen. Doch auch dagegen sträubt sich die Regierung im Dublin. Das hat weniger wirtschaftliche als politische Gründe. Es geht um den Friedensprozess in Nordirland.
Die offene Grenze ist Bestandteil des Karfreitagsabkommens von 1998. Es beendete den rund 30-jährigen Konflikt (beschönigend Troubles genannt) zwischen irischen Nationalisten und britischen Unionisten, dem rund 3500 Menschen zum Opfer fielen. Die irische Regierung befürchtet, die Rückkehr von uniformiertem Personal an der Grenze würde die Nationalisten provozieren.
Die Explosion einer Autobombe im nordirischen Derry vor zehn Tagen zeigt, dass diese Ängste nicht aus der Luft gegriffen sind. Ein persönlicher Augenschein in Belfast Ende letzten Jahres bestätigte diesen Eindruck. Vordergründig herrscht Normalität, doch in den teilweise durch eine Betonmauer getrennten Quartieren der verfeindeten Parteien sind die Wunden der «Troubles» längst nicht verheilt.
I've yet to see any technology that would solve the Brexit border issue, Ireland's PM Leo Varadkar says https://t.co/RdeiNI9oOU pic.twitter.com/EqfeOVFGuT
— Bloomberg Brexit (@Brexit) January 27, 2019
Das Unterhaus überwies am Dienstag einen Antrag des konservativen Abgeordneten Graham Brady. Er will den Backstop aus dem Abkommen mit der EU kippen und durch «alternative Regelungen» ersetzen. Wie diese aussehen sollen, sagt Brady nicht. Brexit-Hardliner verweisen darauf, dass der Warenverkehr mit Irland ein relativ geringes Volumen aufweise.
Um die Zollkontrollen zu erleichtern, könnten nicht näher bezeichnete «Technologien» zum Einsatz kommen. Für den irischen Premierminister Leo Varadkar ist dies keine Lösung, wie er am WEF in Davos im Interview mit Bloomberg betonte: «Jemand soll mir eine Technologie zeigen, mit der man in einen Lastwagen schauen und kontrollieren kann, ob sich Hormone im Rindfleisch befinden.»
Für die EU stellt sich die Frage, ob sie die Position ihres Mitglieds Irland oder die der «abtrünnigen» Briten höher gewichten soll. Die Antwort ergibt sich eigentlich von selbst. Dies relativiert auch die angeblichen «Risse» innerhalb der Europäischen Union. Der polnische Aussenminister Jacek Czaputowicz etwa plädierte letzte Woche für eine Befristung des Backstop auf fünf Jahre.
Für ihn geht es um den Schutz seiner in Grossbritannien lebenden Landsleute (ihre Zahl wird auf bis zu eine Million geschätzt). Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel soll Zugeständnisse an Theresa May erwogen haben. Letztlich aber komme es für die EU nicht in Frage, die Iren «unter den Bus zu werfen», heisst es in Brüssel.
Er ist der grösste Schwachpunkt im irischen Dispositiv. Bei einem chaotischen Austritt ohne Abkommen würden die unerwünschten Grenzkontrollen sofort eingeführt. Premier Varadkar sprach am WEF von einem «erheblichen Dilemma». In London und Brüssel hoffen manche deshalb insgeheim, dass die Iren am Ende doch zu einer «alternativen Regelung» bereit sein werden.
Bislang deutet nichts darauf hin. Die EU spekuliert vielmehr, dass die Briten klein beigeben werden. Und das nicht ohne Grund. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Wirtschaftsvertreter in Grossbritannien eindringlich vor einem No-Deal-Brexit warnen. Diese Woche veröffentlichten grosse Detailhändler einen Brief, in dem sie auf mögliche Versorgungsengpässe hinwiesen.
In zwei Wochen muss Theresa May dem Unterhaus das Ergebnis ihrer Nachverhandlungen zur Abstimmung vorlegen. Offenbar hofft sie auf ein einseitiges Kündigungsrecht für den Backstop, wie sie am Mittwoch im Parlament erklärte. Brexit-Minister Stephen Barclay sagte der BBC, ein ungeordneten Ausstieg am 29. März werde immer wahrscheinlicher.
Möglich ist aber auch, dass das Parlament in zwei Wochen für eine Verlängerung der Austrittsfrist votieren könnte. Bereits am Dienstag nahm es einen Antrag an, wonach es keinen Brexit ohne Abkommen mit der EU geben soll. Verbindlich ist dieser Beschluss allerdings nicht. Die Situation erinnert an ein klassisches Wildwest-Duell. Beide warten darauf, dass der andere zuerst blinzelt.