Vorsichtig bis skeptisch: So äusserten sich Brüssel und Dublin zu den neuen Brexit-Plänen, die der britische Premierminister Boris Johnson am Mittwoch in seiner Abschlussrede am Tory-Parteitag in Manchester vorgestellt hat. Mit einem ziemlich komplizierten Konstrukt will er Kontrollen an der irischen Grenze vermeiden und so den ungeliebten Backstop beseitigen.
Das Irland-Problem ist der grösste Stolperstein für einen vertraglich geregelten Austritt Grossbritanniens aus der EU. Grenzkontrollen könnten den Friedensprozess in Nordirland gefährden und sollen deshalb vermieden werden. Den Backstop, bei dem Nordirland in der EU-Zollunion und teilweise im Binnenmarkt verbleiben würde, lehnt Johnson jedoch vehement ab.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erklärte nach einem Telefonat mit Johnson, in dessen Vorschlägen steckten «positive Fortschritte». Doch blieben auch «problematische Punkte». Die EU will vermeiden, selbst unter Zugzwang zu geraten, denn der Premierminister hat in Manchester bekräftigt, dass er den Brexit am 31. Oktober in jedem Fall durchziehen will.
Boris Johnson nimmt damit in Kauf, das kürzlich vom Parlament beschlossene Gesetz zu brechen, das einen No-Deal-Brexit faktisch verbietet. Für Beobachter ist klar, dass Johnson möglichst bald Neuwahlen durchführen will. Gleichzeitig sind seit dem Wochenende mehrere pikante Vorwürfe aufgetaucht, die Boris Johnson noch zu schaffen machen dürften. Es geht um Sex und Korruption.
Der erste Fall betrifft die US-Unternehmerin Jennifer Arcuri. Sie soll laut der «Sunday Times» für ihre Tech-Firmen Fördergelder von insgesamt 126'000 Pfund (153'000 Franken) erhalten haben, unter anderem während Johnsons Amtszeit als Bürgermeister von London von 2008 bis 2016. Damals soll das Ex-Model gemäss der Zeitung auch eine Affäre mit Johnson gehabt haben.
Boris Johnson refuses to deny alleged affair with US businesswoman Jennifer Arcuri https://t.co/m8FOzPgotZ pic.twitter.com/DNVWS1c6xz
— SimpleNews.co.uk (@Simplenewsuk) October 1, 2019
Der Bürgermeister habe sich regelmässig in Arcuris Wohnung im Osten Londons aufgehalten. Ausserdem begleitete sie ihn auf drei Auslandsreisen nach Singapur und Malaysia, Tel Aviv und New York, obwohl sie die Kriterien für die Teilnahme nicht erfüllt habe, schrieb die «Sunday Times». Zweimal sei sie abgelehnt worden, doch Johnsons Büro habe sich darüber hinweg gesetzt.
Der Verdacht der Begünstigung steht im Raum. Boris Johnson wies gegenüber der BBC den Vorwurf zurück, er hätte einen Interessenkonflikt deklarieren müssen. Alles sei «im Einklang mit den Vorschriften» geschehen. Jennifer Arcuri, die von der «Daily Mail» an ihrem heutigen Wohnort Los Angeles abgefangen wurde, sprach von einer «orchestrierten Attacke der Medien».
Die zuständige Behörde in London will prüfen, ob es Gründe für ein Strafverfahren gegen den früheren Bürgermeister gibt. Um Fragen nach ihrer Affäre drückten sich Arcuri und Johnson herum. Der Premierminister ist ein notorischer Fremdgänger, seine sexuellen Eskapaden sind berüchtigt. Darum geht es auch bei einem weiteren, am Wochenende publik gewordenen Vorwurf.
Ebenfalls in der «Sunday Time»s berichtete die 45-jährige Journalistin und Kolumnistin Charlotte Edwardes über einen Vorfall, der sich vor 20 Jahren zugetragen haben soll, als sie für den «Spectator» arbeitete. Boris Johnson war damals Chefredaktor des konservativen Politikmagazins. Bei einem gemeinsamen Essen mit viel Wein sei sie rechts von ihm gesessen.
Plötzlich habe sie seine Hand auf ihrem Oberschenkel gespürt, «so dass ich schlagartig aufrecht sass». Sie habe den Vorfall einer Frau erzählt, die zur Linken von Johnson sass, worauf diese erwidert habe: «Oh mein Gott, er hat bei mir das Gleiche gemacht.» Britische Medien spekulierten, bei dieser Frau handle es sich um Mary Wakefield, die immer noch beim «Spectator» arbeitet.
Wakefield wies diese Vermutung am Montag zurück. Sie habe «nie etwas Derartiges erlebt». Boris Johnsons Gegner bezweifeln dies, denn Mary Wakefield ist mit Dominic Cummings verheiratet, dem Brexit-Drahtzieher und umstrittenen Chefberater des Premiers. Johnson liess am Rande des Tory-Parteitags verlauten, die Anschuldigungen betreffend sexueller Belästigung seien «unwahr».
If the prime minister doesn’t recollect the incident then clearly I have a better memory than he does https://t.co/pbcLJThkqP
— Charlotte Edwardes (@chedwardes) September 29, 2019
Mehrere Getreue eilten ihm zu Hilfe, nicht jedoch Gesundheitsminister Matt Hancock, einer der wenigen Gegner eines No-Deal-Brexit im Kabinett. Er kenne Charlotte Edwardes und vertraue ihr vollkommen, sagte er dem Sender Channel 4. Die Journalistin meinte auf Twitter an die Adresse von Boris Johnson, sie habe «eindeutig ein besseres Gedächtnis als er».
Die beiden Fälle werfen kein gutes Licht auf den Premierminister. Fast noch gravierender ist ein Vorwurf des früheren Schatzkanzlers Philip Hammond. Er gehört zu den Tory-Rebellen, die aus der Fraktion im Unterhaus geworfen wurden. Nun behauptete er in der «Times», Boris Johnson sei eine Art Marionette von Spekulanten, die Milliarden auf einen «harten» Brexit gesetzt hätten.
Hedgefonds in der Londoner City würden das britische Pfund «shorten», also auf einen Kurszerfall wetten, der bei einem chaotischen EU-Austritt wohl unvermeidlich wäre. Kenner der Branche halten Hammonds Vorwurf für unsinnig bis überzeichnet. Es sei die Aufgabe von Finanzinvestoren, sich für alle Eventualitäten zu wappnen, also auch für einen vertragslosen Brexit.
Dieser rückt immer näher. In vier Wochen läuft die Deadline ab. Die Erarbeitung eines neuen Vertrags mit der EU in dieser kurzen Zeit wäre ein Kraftakt. Einiges deutet darauf hin, dass es beiden Seiten nur noch darum geht, der anderen die Schuld am Debakel anzuhängen.