Was ist der Unterschied zwischen der Bundesrats- und der Bundestagswahl? Es gibt keinen, bei beiden ist der Sieger (oder die Siegerin) bereits bekannt. In der Schweiz durfte sich Topfavorit Ignazio Cassis am Mittwoch wie erwartet als Bundesrat feiern lassen kann. Ennet der Grenze scheint der Fall ebenfalls klar: Angela Merkel, who else?
Einer hält unverdrossen dagegen: Martin Schulz, Kanzlerkandidat der SPD. Die Umfragewerte für seine Partei sind im Keller. Im ARD-Deutschlandtrend kamen die Sozialdemokraten am letzten Freitag auf 20 Prozent, im ZDF-Politbarometer waren es immerhin 23 Prozent. Damit liegen sie rund 15 Prozent hinter Merkels CDU/CSU. Die Lage für Schulz ist nicht ernst, sie ist hoffnungslos.
4500 Leute in Freiburg! Wir wollen das Land gerechter machen & in seine Zukunft investieren. Schluss mit der Schlaftablettenpolitik der CDU! pic.twitter.com/Uj0pO3NXLx
— Martin Schulz (@MartinSchulz) 16. September 2017
Wie geht der Kandidat damit um? Zeit für einen Augenschein vor Ort. Am Samstag liess ich den Schweizer Politrummel für einige Stunden hinter mir und begab mich nach Freiburg im Breisgau, nur 40 Zugminuten von Basel entfernt. Acht Tage vor der Bundestagswahl hatte Martin Schulz dort einen Wahlkampfauftritt auf dem Platz der Alten Synagoge im Stadtzentrum.
Von Untergangsstimmung war keine Spur. Weder die Vorredner auf der Tribüne noch das Publikum wirkten resigniert. 4500 sollen es gewesen sein. Das ist vielleicht ein wenig übertrieben, aber gross war der Aufmarsch allemal. Was nicht sonderlich überrascht: Die Universitätsstadt Freiburg tickt traditionell links und ökologisch.
Es war also ein Heimspiel für Martin Schulz, das von keinerlei Störgeräuschen begleitet war. Ein einsamer Demonstrant – vermutlich ein Anhänger der Linken – protestierte am Rande gegen die sozialen Zumutungen, die man angeblich der SPD zu verdanken habe. Schulz genoss die gute Stimmung sichtlich. Er wirkte gelöst, den Wahlkampfstress liess er sich nicht anmerken.
Und er war in Kampfeslaune. Gleich zu Beginn seines 45-minütigen Auftritts redete er sich in Rage: «Was mir am meisten auf den Keks geht, ist der Vorwurf, man rede das Land schlecht.» Das Gegenteil sei der Fall: «Wer Probleme anspricht, macht das Land besser!» ruft Schulz und erhält erstmals Applaus. Schilder mit der Aufschrift «Jetzt ist Schulz» werden hochgehalten.
Man erinnert sich an den Anfang seiner Kampagne im Frühjahr. Die überraschende Ernennung des früheren EU-Parlamentspräsidenten zum Kanzlerkandidaten der SPD hatte einen Hype ausgelöst. Die Sozialdemokraten überholten die Unionsparteien in den Umfragen. Obwohl Deutschland wirtschaftlich brummt, lag auf einmal ein Hauch von Wechselstimmung in der Luft.
Das lag nicht nur an einem gewissen Überdruss über die «ewige» Kanzlerin Merkel. Schulz wirkte neben ihr wie ein frisches Gesicht in der Bundespolitik, obwohl er ein alter Politprofi ist. Auch seine Vita als Ex-Alki, der sich selbst aus dem Sumpf gezogen hat, kam bei den Leuten an. Martin Schulz gefiel, auch mit seiner kompetenten und väterlichen Ausstrahlung.
Allein, er hat die grosse Chance nicht genutzt. Die SPD liegt längst wieder klar hinter CDU/CSU, und auch bei der Kanzlerfrage kommt Merkel auf deutlich bessere Werte als Schulz. Daran war er selber schuld. Zu lange blieb der SPD-Kandidat programmatisch diffus. Sein Thema ist die «Gerechtigkeitslücke» bei Löhnen, Renten, Bildung oder Krankenversicherung.
In Freiburg widmete Schulz den grössten Teil seiner Rede diesen Aspekten. Seine Empörung über die «ungerechten» Zustände wirkte nicht gespielt. Doch es gibt zwei Probleme: Die meisten Deutschen haben das Gefühl, es gehe ihnen gut. Und während acht der zwölf Merkel-Jahre hat die SPD in der Grossen Koalition mitregiert.
Wenn Martin Schulz sich darüber beklagte, dass Deutschland nach zwölf Jahren Merkel bei der Digitalisierung «dramatisch im Rückstand» sei, und darauf verwies, dass Chile und Mexiko einen besseren Breitbandausbau hätten und Peru ein besseres Mobilfunknetz, dann fällt dieser Vorwurf vielleicht nicht auf ihn selbst, aber zumindest teilweise auf seine Partei zurück.
Es fällt Angela Merkel deswegen leicht, ihren Rivalen zu ignorieren. Die Kanzlerin mache «Schlaftablettenpolitik», klagte Schulz in Freiburg. Er bemühte sich nach Kräften, Merkel zu attackieren, und offenbarte dabei doch nur seine aus Sicht des angereisten Beobachters grösste Schwäche: Ihm fehlt das «Killer-Gen», der bedingungslose Wille zur Macht, über den Helmut Schmidt und Gerhard Schröder verfügten, die beiden letzten SPD-Bundeskanzler.
Nie wurde dies deutlicher als beim einzigen Fernsehduell. Schulz verspottete es als «Begegnung mit Angela Merkel in Anwesenheit von Journalisten». Wenn es so herüberkam, war er primär selber schuld daran. Statt seine rhetorische Stärke auszuspielen, liess er sich von der Kanzlerin einlullen. Wen wundert es da, dass er gerne ein zweites Duell hätte – und Merkel ihn auflaufen lässt?
Martin Schulz kann reden, daran besteht kein Zweifel. Man erkannte einmal mehr den Unterschied zwischen deutschen Polit-Profis und Schweizer «Amateuren». Zur Hochform lief er auf, als er die AfD ins Visier nahm: «Das ist keine Alternative für Deutschland, sondern eine Schande für unsere Nation!» Er wolle diese Partei «nicht im Bundestag sehen» – wohl ein frommer Wunsch.
«Ihr habt die Wahl zwischen einer Kanzlerin, die nichts sagt, und einem Kanzler, der weiss, was er will», rief Martin Schulz am Ende dem Freiburger Publikum zu. Der Applaus war stark. Das Wetter passte zu seinem bisherigen Wahlkampf: Am Anfang der Rede schien die Sonne, am Ende fielen erste Regentropfen. Vermutlich wird Schulz auch am Sonntag im Regen stehen.
Forschungsgruppe Wahlen: die CDU verliert bei der politischen Stimmung in zwei Wochen 8%, die SPD gewinnt 6%. Jetzt steht es dort 34:28. pic.twitter.com/PFcoVCOeKK
— Florian Pronold (@FlorianPronold) 15. September 2017
Noch geben er und die Partei nicht auf. Hoffnung macht ihnen die politische Stimmung im Land. Seit Anfang September verzeichnet die SPD einen starken Aufwärtstrend. Ob sich dieser auch in den Wahllokalen äussern wird, scheint zweifelhaft. Martin Schulz bleibt Optimist: «Mehr als 40 Prozent der Leute sind noch unentschlossen», betonte er bei einer kurzen Begegnung mit den Medien. Dann musste er weiter, zum nächsten Auftritt in Karlsruhe.
Wenn das #watson wüsste...
— Bela Anda (@BelaAnda1) September 16, 2017
Ich besteige den Zug zurück nach Basel. Meine via Twitter formulierten Zweifel an den Siegeschancen der SPD werden von Bela Anda gekontert, dem ehemaligen Pressesprecher von Gerhard Schröder, der als Berater für Martin Schulz arbeitet. Am nächsten Sonntag um 18 Uhr wird man wissen, ob in Deutschland ein politisches Wunder geschehen ist.