Anne-Sophie Tindalid ist in einem kleinen Dorf im Neuenburger Val-de-Travers auf 1000 Meter über Meer aufgewachsen. Heute ist die 39-Jährige mit dem Färinger Oli verheiratet, hat mit ihm zwei Teenager-Mädchen und einen bald einjährigen Sohn und lebt in Nuuk auf Grönland. Wie kam es dazu?
Von Grönland haben vermutlich einige Bilder im Kopf. Aber wohl kaum jemand kann sich vorstellen, wie es ist, dort zu leben. Wie lebt es sich als einzige Schweizerin in Nuuk, der Hauptstadt Grönlands?
Anne-Sophie Tindalid: Es lebt sich wunderbar! (lacht). Nuuk ist mehr oder weniger eine durchschnittliche europäische Kleinstadt. Für mich ist diese Zeit im März/April am schönsten. Da liegt noch überall Schnee, aber die Sonne scheint schon bis zu 12 Stunden am Tag. Dadurch ist es nicht mehr so kalt wie im Januar/Februar. Wenn die Sonne scheint, glänzt das Meer, als sei es mit tausenden Diamanten besetzt. Der Kontrast von weissem Schnee, dem blauen Wasser und blauen Himmel ist einfach wunderbar.
Das hört sich gut an. Aber die Jahres-Durchschnittstemperatur in Nuuk beträgt gerade mal 10 Grad.
Man gewöhnt sich ans Wetter und man kann einfach jeweils noch eine Kleiderschicht anziehen. Was aber wirklich noch immer herausfordernd ist, sind die wirklich kalten, windigen Schneetage, die es im Winter geben kann. Und ja, im Sommer ist es leider schon nicht oft wirklich warm, dazu geht meist ein kühler Wind.
Was macht man während den kurzen, kalten Wintertagen?
Das Leben spielt sich viel mehr drinnen ab und alles ist entspannter. Wenn das Wetter nicht gut ist, sind wir natürlich mehr zu Hause. Aber wenn die Sonne scheint, dann geht man raus und geniesst die wenigen hellen Stunden. Ich habe mittlerweile akzeptiert, dass ich im Winter weniger «motiviert» bin und weniger unternehme. Der Mangel an Licht beeinflusst mich während dieser Zeit schon.
Trotzdem bleibt ihr auf Grönland?
Es gibt natürlich auch viele positive Aspekte. Mein Mann wuchs hier auf, meine beiden älteren Kinder haben ihre Wurzeln hier. Wir sind sehr gut integriert.
Warum bist du überhaupt auf Grönland gelandet?
Die Liebe. (lacht). Allerdings ging das nicht von heute auf morgen. Ich traf meinen heutigen Ehemann im Jahr in North Wales, wo wir beide Englisch lernten. Daraus entwickelte sich danach eine Fernbeziehung. Er studierte in Dänemark, ich lebte in der Schweiz. Wir besuchten uns oft gegenseitig. Ich lernte dann auch seine Familie auf den Färöer Inseln kennen. Bis ich nach Grönland kam, dauerte es aber noch etwas.
Wie lange?
Über Weihnachten und Neujahr 2002/2003 war ich das erste Mal auf Grönland. Eine Reise dorthin ist teuer. Sechs Monate später kam ich zurück. Ich traf seine restliche Familie, sah, wo er aufwuchs, wo er herkommt. Und dann blieb ich. Allerdings waren die ersten drei Jahre ein Test, ob ich in Grönland leben kann. Nun bin ich immer noch hier (lacht).
Kannst du dir vorstellen, wieder in die Schweiz zurückzukehren?
Ich weiss es nicht. Unsere Töchter wollen nicht weg. Aber in ein paar Jahren sind sie erwachsen und nicht mehr von uns abhängig. Meine Eltern in der Schweiz werden älter und vielleicht benötigen sie in ein paar Jahren Hilfe, dann könnten wir uns einen Umzug überlegen. Aber wie gesagt: Aktuell kann ich das nicht beantworten. Man weiss nie, was kommt.
Wie oft bist du noch in der Schweiz?
Wir versuchen, jedes Jahr in die Schweiz zu reisen. Aber manchmal klappt es auch nur jedes zweite oder dritte Jahr.
Dein Leben spielt sich in Nuuk ab. Mit rund 17'000 Einwohnern ist sie die mit Abstand grösste Stadt der Insel. Wie ist das Leben dort?
Da ich aus einem kleinen Dorf in der Schweiz komme, wirkt Nuuk für mich ziemlich gross. es gibt hier viel mehr Möglichkeiten als in anderen Orten Grönlands. Die Natur ist sehr nah. Wir können zu Fuss oder mit dem Segelboot in die nahegelegenen Fjords und sind sofort weg vom Trubel.
Wie läuft ein normaler Tag für Arbeitnehmende in Nuuk?
Wer arbeitet, geht selten heim über Mittag. Man nimmt eine Lunchbox mit oder besorgt sich sein Mittagessen in einem Laden oder in der Kantine der Arbeitsstelle. Kinder essen in der Schule zu Mittag. Meist wird dies angeboten oder sie nehmen auch eine Lunchbox mit. Normalerweise arbeiten hier beide Elternteile und die kleinen Kinder sind in Kindertagesstätten.
Es ist also normal, dass beide Elternteile arbeiten?
Ja, total normal. Viele finden es sowieso gut, wenn die Kinder früh mit anderen in Kontakt kommen. Allerdings ist es nicht ganz einfach, einen Platz in den Kindertagesstätten zu erhalten. Die Wartelisten sind lang, das kann gut und gerne acht bis neun Monate dauern (wenn beide Elternteile arbeiten). Alleinerziehende oder Paare, bei denen beide Elternteile noch studieren, werden bevorzugt behandelt.
Und zahlbar ist das auch?
Er wird vom Lohn aus berechnet. Das half uns sehr. Als wir unser erstes Mädchen erhielten, war mein Mann Student. Er absolvierte in Nuuk den praktischen Teil und ging in Kopenhagen zur Schule, ich arbeitete die Monate vor der Geburt wenig, da ich in Dänemark vor allem Dänisch lernte. Darum hatten wir tiefe Kosten. Die Krippen sind normalerweise von 7 bis 17 Uhr von Montag bis Freitag offen und sehr «grönländisch» mit der Sprache, dem Essen und den Angestellten.
Aktuell bist du in Mutterschaftsurlaub mit eurem kleinen Sohn. Wie ist der geregelt in Grönland?
Normalerweise neun Monate für die Mutter, drei Wochen für den Vater. Man kann die Zeit aber auch zu gleichmässigen Teilen auf beide Eltern aufteilen. Einige entscheiden sich dafür. Für uns macht es so mehr Sinn.
Wie sieht es mit Laden-Öffnungszeiten aus?
Die Läden sind an sieben Tagen in der Woche offen, meist bis 20 Uhr, an den Wochenenden bis 18 Uhr. Man kann eigentlich immer einkaufen.
Ich sah ein Bild vom Friedhof Nuuks mitten in der Stadt. Das sah noch speziell aus.
Ja, das stimmt. Der sieht nicht aus, wie wir uns das von der Schweiz gewohnt sind. Es gibt zwei alte Friedhöfe in der Stadt, sie sind aber beide voll. Der aktuelle Friedhof liegt ausserhalb der Stadt auf dem Weg zum Flughafen.
A propos Flughafen: Andere Orte sind teilweise nicht ganz einfach zu erreichen oder es gibt dort gar nichts zu sehen. Ist das nicht auch beklemmend?
Das stimmt. Bekannte aus einem anderen Dorf kannst du nicht einfach schnell mit dem Auto besuchen gehen. Nuuk selbst wächst rasant, überall entstehen neue Viertel. Das hilft auch, dass man sich nicht eingeengt fühlt.
Wie zeigt sich dieser Wachstum?
Es ist teilweise wirklich unfassbar, wie schnell die Stadt wächst. Es werden ganze Quartiere gebaut. Qinngorput wuchs in den letzten 20 Jahren extrem. Dann soll in Siorarsiorfik südöstlich von Nuuks Zentrum ein komplett neues Quartier entstehen. Noch hat man da nicht zu bauen angefangen, aber bald ist alles bereit. Was vor allem noch fehlt, ist ein Erschliessungstunnel.
Eines der Probleme in Grönland ist der übermässige Alkoholkkonsum. Wie schlimm ist das wirklich?
Leider ist dies tatsächlich ein häufiges Problem. Du kannst hier täglich schon tagsüber Betrunkene in den Strassen sehen. Viele Kinder sind mit alkoholsüchtigen Eltern betroffen. Aber ich glaube, in kleineren Dörfern an abgelegeneren Orten ist das Problem noch grösser.
In Grönland sind viele Orte schwierig zu erreichen. Viele Dörfer sind auch verlassen. Warum?
Es gibt viele Gründe dafür und gehört zur Geschichte Grönlands. In den 1950ern und 1960ern investierte Dänemark in Grönland und wollte eine grosse Fischindustrie aufbauen. Viele Grönländer wurden aufgefordert, ihre abgelegenen Dörfer zu verlassen und an Orte zu ziehen, wo diese Fischerei-Industrie aufgebaut wurde. Einige Dörfer wurden dabei eigentlich wirklich «geschlossen» und die Leute gezwungen, umzuziehen. Es gab aber auch andere Fälle, wie zum Beispiel Færringhavn, wo die Leute schlicht wegen der Arbeit hinzogen. Als dann die Fischerei-Industrie in die Krise kam, zogen auch die Leute wieder weg.
Zu diesen abgelegenen Dörfern zählt auch Qaanaaq, das nördlichste Dorf der Insel und damit der Welt. Warst du schon einmal dort?
Nein, noch nicht. Sicher ist: Qaanaaq liegt wirklich abgelegen und ist kein Vergleich zu Nuuk.
Wie weit bist du in Grönland schon herumgekommen?
Zum Glück schon einige Male, es war immer beeindruckend. Wir waren in Ilulissat und Sisimiut im März/April, oder im Süden in Paamiut, wo das Leben noch ursprünglicher ist. Einen Ort zu empfehlen, ist schwierig. Es hängt immer davon ab, was du willst. Mir gefiel es in Paamiut sehr gut, weil wir die grönländische Kultur besser kennenlernten und uns in einer kleinen Community gut aufgehoben fühlten.
Warst du auch schon auf dem Mount Sermitsiaq, dem «Hausberg» Nuuks?
Ich nicht, aber mein Mann. Man muss da erst hinsegeln und danach ist der Weg nicht der einfachste. Ich war auf dem Store Malene, der 775 Meter hoch ist. Da hat man eine schöne Sicht auf Nuuk und den Fjord und es ist eine schöne Sommerwanderung.
Sieht man eigentlich die Nordlichter in Nuuk?
Ja, man sieht sie auch in der Stadt. Aber klar, wenn du etwas aus der Stadt gehst, werden sie noch deutlicher. Von dort, wo ich lebe, dauert es 10 bis 15 Minuten und die Lichter der Stadt stören nicht mehr.
Und die klassischen Bilder von Eisbergen, die an der Küste vorbeiziehen?
Die sieht man in Nuuk selten. Im Frühling manchmal, aber es sind deutlich weniger als beispielsweise in Ilulissat.
Ist die Klimaerwärmung in Nuuk ein Tagesthema?
Ich glaube, dass wir dies in Nuuk nicht so wahrnehmen, wie an anderen Orten. Die Sommer werden etwas länger. Aber es ist nicht so, als ob uns das täglich beschäftigen würde.
Wie sind denn diese Sommer, wenn die Tage lang werden?
Im Sommer sind alle aktiver und beschäftigt. Man kann abends lange den Tag geniessen und sogar nachts segeln gehen. Allgemein sind Grönländer dann immer unterwegs. Schwieriger ist jedoch die Zeit zwischen Sommer und Winter. Im März/April müssen wir uns erst wieder an das viele Licht gewöhnen, im September/Oktober müssen wir unsere Aktivitäten wieder den kürzeren Tagen und kälteren Temperaturen anpassen.
Wann sollte ich Grönland besuchen?
Jede Jahreszeit hat ihre Reize, es ist mehr die Frage, was du sehen und erleben willst. Im Winter hast du die Möglichkeit, Nordlichter zu sehen. Dazu gibt es während täglich mehreren Stunden weissen Schnee und pinkfarbenen Himmel zu bestaunen. Im Sommer sind die Tage lang und die Farben am Abend und in der Nacht eindrücklich. Du hast Chancen, Wale oder Robben zu sehen, kannst segeln oder Wandern in einer schönen, aber wilden Natur.
Wie gehen die Einheimischen allgemein mit Ausländern um?
Normalerweise gibt es zwei Gruppen: Es gibt diejenigen, welche weltoffen, interessiert und herzlich sind. Sie helfen dir, wo sie nur können. Und dann gibt es diejenigen, welche sich um das kulturelle Erbe Grönlands sorgen und sehr abweisend reagieren.
Sorgen sie sich zurecht?
Nun, viele Menschen leben nicht in Grönland. Und die nicht immer einfache Geschichte mit Dänemark hat einige hier geprägt. Gegenüber mir werden viele offener, wenn sie erfahren, dass in der Schweiz kulturelle und sprachliche Unterschiede innerhalb des Landes ebenso existieren. Hier geht es manchmal ein bisschen so mit der grönländischen und dänischen Kultur.
Wo ähneln sich die Schweiz und Grönland sonst noch?
Die Natur ist in beiden Ländern wunderschön. Unterschiedlich, aber wunderschön.
Was kann die Schweiz von Grönland lernen?
Grönländer sind entspannter. Sie planen den Tag nach den Umständen. Wenn etwas heute nicht klappt, machen wir es an einem anderen Tag. Vermutlich leben Grönländer mehr im Jetzt und geniessen diese Zeit. Zudem gibt es nur wenige Leute hier in einem riesigen Gebiet. Alle sind sehr freundlich und man hilft einander aus.
Gibt es Schweizer Besonderheiten, die du bewahrt hast?
Unsere Familie ist ein Mix aus Schweizer, färingerscher, dänischer und grönländischer Kultur. Es ist schwierig, da etwas herauszupicken. Es dominieren die Schweizer und färingerschen Aspekte, da mein Mann von den Färöern stammt.
Was vermisst du aus der Schweiz?
Wir lieben Schweizer Essen. Auf Heimatbesuch gibt es daher immer Raclette und Fondue. In Grönland sind einige Gemüsearten zudem schwierig zu bekommen. Natürlich fehlt mir manchmal auch die Landschaft aus der Schweiz oder irgendwelche Aktivitäten, die wir hier nicht ausführen können. Aber wir entschieden, dass wir die Zeit in Grönland geniessen wollen. Das ist, wo wir leben und unsere Gegenwart.