Hat sich eine Person je mit schöneren Worten verabschiedet? «Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.»
Es sind die letzten Zeilen Stefan Zweigs, niedergeschrieben am 22. Februar 1942, am Tag, als sich der jüdisch-österreichische Schriftsteller in seinem abgedunkelten Schlafzimmer zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Lotte das Leben nahm. Hier, im brasilianischen Buschdörfchen Petrópolis, wo er sich im Exil unter Palmen und Bananenbäumen ein Paradies geschaffen hatte. Ein Paradies, an dem Stefan Zweig zugrunde gegangen war.
«Was mich interessierte, war diese seltsame Zerrissenheit», sagt Filmregisseurin Maria Schrader. «Auf der einen Seite war Stefan Zweig weltberühmt, wurde überall wie ein Staatsmann empfangen; auf der anderen Seite war er ein Vertriebener, der in die Abgeschiedenheit flüchtete, zum Paradies aber keine Verbindung fand.» Vor 15 Jahren hatte Schrader erstmals die Idee, einen Film über Stefan Zweig zu machen, einen Film darüber, was es eigentlich bedeutet, im Exil zu leben.
Die 50-jährige Deutsche ist eigentlich als Schauspielerin aus Filmen wie «Aimée & Jaguar» (1997) und «Meschugge» (1998) bekannt. Doch schon bei letzterem schrieb sie zusammen mit ihrem langjährigen Lebenspartner Dani Levy das Drehbuch und sammelte erste Regie-Erfahrungen.
Nach der Bestseller-Verfilmung «Liebesleben» (2005) ist nun «Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika» Schraders zweite volle Regiearbeit und noch dazu eine ungemein reife und herausragende.
Ihr Dichterporträt ist kein klassisches Biopic, eine lineare Erzählung entlang den Höhen und Tiefen von Zweigs Leben und Schaffen habe sie nie interessiert, «das wird dieser versprengten Biografie, die auch von Willkür und Zufall bestimmt ist, nicht gerecht», so Schrader. Und ergänzt: «Wenn du linear erzählst, wird das eine kausale Erzählung bis zum Selbstmord hin – das wäre falsch.»
Stattdessen zeigt Maria Schrader in Echtzeit vier Momentaufnahmen – eingerahmt durch Prolog und Epilog – aus Zweigs letzten Lebensjahren: Momente, die eine unvermittelte Begegnung mit dem (neben Thomas Mann) grössten deutschsprachigen Dichter dieser Zeit zulassen; und «Momente, die auf unterschiedliche Weise das Thema Exil bespiegeln», wie Schrader sagt.
So sehen wir Zweig – vom österreichischen Kabarettisten Josef Hader mit famoser Zurückhaltung gespielt – 1936 an einem Schriftsteller-Kongress in Buenos Aires, wo der Literat als Ehrengast im Namen aller exilierten Schriftsteller den aufkommenden Faschismus und das deutsche Nazi-Regime verurteilen soll.
Doch Zweig, der ewige Pazifist, der Intellektuelle, der Kunst nicht mit Politik vermengen will, weigert sich. Und als er vor der versammelten Weltpresse seine Hände vor sein Gesicht schlägt, geht das Foto mit der Schlagzeile um die Welt, Zweig habe vor Rührung geweint – in Wirklichkeit war es ihm unangenehm, als Märtyrer gefeiert zu werden.
Schrader betont, «welch Komplexität dieser Situation innewohne» – und tatsächlich bringt diese den zentralen Konflikt ihres Films auf den Punkt. Zweig, der 1934 vor den Nazis aus Österreich geflohen war und einen Grossteil seines Exils in Südamerika verbrachte, hatte dort, fernab des europäischen Grauens, im vermeintlichen Paradies, auch so etwas wie eine psychologische Hölle vorgefunden.
Diese zwiespältige Exilerfahrung verdeutlicht auch die zweite Episode des Films, in der sich Zweig fünf Jahre später, als der Krieg bereits ausgebrochen ist, mit seiner zweiten Ehefrau Lotte in einem brasilianischen Zuckerrohrfeld den Zuckeranbau erklären lässt. Der Autor recherchiert dort für sein Brasilien-Buch (das ihm später gerade in seiner Wahlheimat viel Kritik eintragen sollte), an einem Ort, wo die Menschen keine Ahnung haben, warum man als Jude nicht in Deutschland bleiben kann. Und wo der Bürgermeister zu Stefan Zweigs Ehren eine schwarze Marschkapelle den Donau-Walzer vorspielen lässt.
Schrader redet von Zweigs Ankunft in «den Niederungen des Exils». Sie hat die Sequenz mit einer wunderbaren Absurdität durchsetzt, mit unglaublich viel Feingefühl spiegelt sie Zweigs inneren Konflikt nach aussen – und lässt erahnen, warum er nur ein Jahr später den Freitod wählte.
«Ich glaube, er konnte sich mit dem Gedanken daran, was zeitgleich in Europa passierte, nicht arrangieren», reflektiert Schrader. «Vielleicht ist dieser Schritt für einen so radikalen Pazifisten die einzig mögliche Widerstandsgeste. Zu sagen: Ich möchte nicht mehr Teil einer sich so verändernden Welt sein.» Zweig habe immer gewusst, dass er Europa nie mehr so vorfinden würde, wie er es verlassen hatte.
Den eigentlichen Akt des Suizids durch Gift spart der Film aus. Der Epilog zeigt, wie Stefan Zweigs und Lottes leblose Körper gefunden werden, samt eingangs erwähntem Abschiedsbrief, und gefilmt ist das in einer einzigen Einstellung, in einer genialen perspektivischen Verdichtung über einen Spiegelschrank, der für den Film, wie so vieles andere, anhand historischer Fotografien minuziös nachgestellt wurde.
«Vor der Morgenröte» ist aber weit mehr als ein historisch akkurates Psychogramm, der Film ist auch von brennender Aktualität. Wenn Zweigs Ex-Frau Friederike davon erzählt, wie am Hafen von Marseille ein halber Kontinent auf einen anderen Kontinent zu flüchten versucht, ist das ein Moment, in dem man als Zuschauer leer schluckt.
«Dialoge, die ich damals geschrieben habe, höre ich heute mit einem ganz anderen Ohr», stellt die Filmemacherin fest. Aus dem Kontinent Europa, von dem alle fliehen wollten, sei heute ein Kontinent der Hoffnung geworden. Und Schrader fügt an: «Ins Exil flüchten, weil die eigene Existenz gefährdet ist: Stefan Zweig unterscheidet sich darin von keinem Syrer, der heute nach Europa kommt.»
Das ist vielleicht das grösste Verdienst ihres Films: In Schraders exemplarischem Porträt eines aussergewöhnlichen Mannes schärft sie unseren Blick für die tragische Zirkularität unserer jüngeren Geschichte.
«Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika» läuft jetzt im Kino.