«Aux armes, citoyens!» – schon von weitem hört man die Marseillaise vor dem Centre François Mitterand. Die Anhänger von Marine sind bereits hier, angereist sind sie aus ganz Frankreich. Lilly zum Beispiel hat über 900 Kilometer zurückgelegt, um ihr Idol in der nordfranzösischen Kleinstadt Hénin-Beaumont zu treffen.
Sie und die weiteren Frontistes schwingen mit ihren Fahnen auf und ab, hie und da erdröhnt ein donnerndes «On est chez nous!» (Wir sind hier bei uns). Ich spüre, wie ich Gänsehaut kriege. Ob das am aufmüpfigen Patriotismus liegt, den ich in gewissem Masse durchaus zu schätzen weiss, oder ob mir das Ganze gruselig ist? Ich weiss es nicht. Angst habe ich aber nicht. Mit meinen blonden Haaren und meiner schnewittchenweisser Haut sehe ich ja aus wie eine echte Française de souche (eine «echte» Französin).
Medienschaffende dürfen als erstes durch die Security. Bei der Wahlveranstaltung von Emmanuel Macron, die ich am Nachmittag besucht habe, wurden mein Rucksack und ich ganze viermal kontrolliert, bis ich endlich in die Halle treten durfte.
Hier, beim rechtsextremen Front National, muss ich mein Säckli nur einmal kurz öffnen – das erstaunt mich. Rund eine halbe Stunde später füllt sich die Halle. Man erkennt von weitem, wer ein Journalist ist, wer ein Anhänger: Die FN-Männer tragen Hemd und Anzug, die Frauen schicke Kleider mit Stöckelschuhen – oft in Pastellfarben, oder sie haben sich in FN-Kleidung gehüllt. Ansonsten sehen sie unscheinbar aus, wie die zig Franzosen, die ich durch den Tag gesehen habe.
Man isst, trinkt, und spekuliert über den Wahlausgang. Je näher das Nachrichtenjournal von 20 Uhr rückt, desto aufgeregter sind die Menschen. Um Punkt 20 Uhr beginnt die Sendung. Alle halten den Atem an, es ist ganz still. Der Moderator eröffnet: Marine Le Pen kommt mit 21,7 Prozent der Stimmen in die Stichwahl.
Es bricht Jubel aus. Die Leute rufen «Marine présidente, Marine présidente» und fallen sich in die Arme. Dann singen sie wieder: die Marseillaise und Klassiker der Musique française. Ich will mir etwas zu trinken hohlen und mir wird Champagner angeboten. Als ich dankend ablehne, werde ich als Spielverderberin betitelt.
Rund eine Stunde später tritt Marine auf die Bühne. Ich kann sie kaum sehen, hören tue ich ihre Rede aber gut. Sie spricht vom «System», das «mit allen Mitteln» versucht habe, die grosse politische Debatte, die diese Wahl darstellen sollte, zu ersticken. Sie warnt vor Macron und seinem «Weg zur totalen Deregulierung, der Massen-Einwanderung und der freien Zirkulation von Terroristen.» Und sie wirbt für sich als «neues Gesicht» der Politik.
Die Menschenmenge ist ausser sich. Sie schreien wieder: «Marine présidente!» Jedes Mal wenn Le Pen den Namen «Macron» ausspricht, ertönen laute Buhrufe. Dann strahlt die Politikerin jeweils auf die Menge herab. Nur Minuten später verlässt sie die Bühne des François Mitterand wieder und verschwindet durch den Hinterausgang.
"Vive le Peuple ! Vive la République ! Vive la France !" #Présidentielle2017 #AuNomDuPeuple pic.twitter.com/efXB5Tom2G
— Marine Le Pen (@MLP_officiel) 23. April 2017
Marine Le Pen werde Frankreich wieder zu dem machen, was es einst war, «Elle va rendre sa grandeur à la France», versuchen mir etwas alkoholisierte Anhänger nach Le Pens Rede zu erklären. Trump lässt grüssen. In der Halle wird gleichzeitig ein Lied von Johnny Hallyday gespielt, die Anhänger fangen zaghaft an zu tanzen. «Allumez le feu», singt der alternde Chansonnier.
Doch richtig in Feststimmung kommen die FN-Fans nicht. Nur eine halbe Stunde nachdem Le Pen die Bühne verlassen hat, ist die Hälfte der Besucher auch weg. Es tänzeln und feiern nur noch vereinzelte Gruppen. Und diese werden von den Medien belagert. (s. Video).
Um elf Uhr bleiben im Hauptraum der Halle dann noch höchstens 60-70 Menschen. Mindestens die Hälfte davon sind aber Journalisten aus der ganzen Welt. Ich versuche, ein letztes Quote zu erhalten und rufe mir ein Taxi.
Auf dem Weg zum Hotel fragt mich der Chauffeur, wie der Abend denn verlaufen sei. Diskussion eröffnet. Ich frage ihn, ob er auch ein Fan vom Front National ist, wie so viele in der Region. Der Mann verneint und erzählt, er habe für Fillon gestimmt. Nun sei er nicht nur enttäuscht sondern auch ahnungslos. Ahnungslos, weil er nun nicht wisse, was er am 7. Mai tun soll: sich seiner Stimme enthalten oder sein Zetteli in die Urne von Marine Le Pen legen.