Er steht mit dem Rücken zur Wand, seine aussenpolitische Macht schwindet: Wladimir Putin hat sich mit seinem Angriffskrieg in der Ukraine verrannt, und für Russland wird es immer schwieriger, politischen Einfluss auf andere Staaten auszuüben. Der russische Präsident muss im Moment dabei zusehen, dass die Fassade seiner Weltmachtambitionen bröckelt: Immer mehr Regierungen versuchen, ihre Verbindungen zu Russland zu kappen, der politische Schaden für Moskau ist immens.
Putin hat anscheinend völlig unterschätzt, dass viele Staaten der russischen Aggression in der Ukraine mit Ablehnung begegnen. Zahlreiche Nato-Länder unterstützen die ukrainische Armee militärisch, die Europäische Union löst sich in hoher Geschwindigkeit von russischen Energieimporten, und selbst Kasachstans Präsident traut sich, Russland auf offener Bühne zu brüskieren. Für den Kremlchef ist das Verrat und er verhält sich wie der von alten Weggefährten beschriebene Strassenjunge, der sich in den Hinterhöfen von Sankt Petersburg mit Gleichaltrigen prügelte, um sich Respekt zu verschaffen.
In der derzeitigen Krise offenbaren Putins Drohungen mit weiteren Kriegen und Atomwaffen jedoch eher die eigene Schwäche: Die russische Führung hat mit dem Krieg gegen die Ukraine viele politische Hebel zertrümmert, um international Einfluss auszuüben. Die Einschüchterung mit militärischer Gewalt ist in vielen Bereichen Putins letzte verbliebene Waffe, die aber langsam abstumpft, weil mittlerweile auch leere Drohungen aus Moskau kommen.
Aber wie gefährlich ist die Situation für andere Länder? In Deutschland sorgte der TV-Moderator Wladimir Solowjow für Kopfschütteln, als dieser im russischen Staatsfernsehen einen Angriff auf die Bundesrepublik forderte.
In der Talkshow, in der Bundeskanzler Olaf Scholz auch schon mit Adolf Hitler verglichen wurde und die ein Millionenpublikum hat, kam zunächst der Kreml-Propagandist Alexander Sosnowski zu Wort, der in Deutschland lebt. «Jede Nato-Armee öffnet ihre Lager und schickt alles an die Front, was sie hat», erklärte Sosnowski. Moderator Solowjow fragte daraufhin, ob diese Länder sich «nackt ausgezogen» hätten. «Ja, zum Beispiel die Bundeswehr», antwortete Sosnowski darauf.
Current mood in Russia: they are not interested in peace or negotiations. The host suggests striking Germany. Pundit Alexander Sosnovsky—who lives in Germany—agrees with that idea. State Duma member, Major General Andrei Gurulyov says that Russia is ready for a big, colossal war. pic.twitter.com/JdVPZq7QLy— Julia Davis (@JuliaDavisNews) June 16, 2022
«Dann würde es also Sinn ergeben, eine zweite Front zu eröffnen und auf Deutschland einzuschlagen, solange sie komplett unbewaffnet sind», forderte Solowjow. «Damit es keine Illusionen bei den Nazis gibt.»
Dass die russische Propaganda mittlerweile bei solch abstrusen Drohungen angelangt ist, sagt viel über die Verzweiflung aus, die im Kreml – angesichts der mageren militärischen Erfolge in der Ukraine – mittlerweile herrschen muss. Denn ein möglicher Angriff auf Deutschland hat wenig mit der Realität zu tun, auch nicht mit der, wie sie Russland sieht: Die russische Armee ist mit dem Krieg in der Ukraine und ihren anderen Auslandseinsätzen im Kaukasus, in Syrien oder in Berg Karabach an ihrer operativen Belastungsgrenze. Gegenüber der Nato wäre Russland in einem konventionellen Krieg hoffnungslos unterlegen. Ein Angriff auf Deutschland ergäbe also auch aus russischer Sicht überhaupt keinen Sinn.
Tatsächlich verfolgt die Kreml-Propaganda mit den Drohungen gegen Berlin eine andere Strategie: Putin möchte der eigenen Bevölkerung signalisieren, dass die kleinere Ukraine im Konflikt mit Russland nur so lange durchhalten könne, weil alle Nato-Staaten ihr komplettes Waffenarsenal in das Land schickten. Die Propagandakampagne gegen Nato-Länder wie Deutschland soll die Menschen in Russland von den hohen Verlusten und den mageren militärischen Erfolgen der Kreml-Armee in der Ukraine ablenken.
Hinter den Drohungen steht noch eine weitere Absicht: Moskau weiss, dass die Ukraine nur durchhalten kann, wenn sie über einen langen Zeitraum vom Westen mit Waffen versorgt wird. Um das zu verhindern, versucht der Kreml, die Angst der Menschen im Westen zu befeuern, die sich vor einem direkten Krieg mit Russland fürchten. In Deutschland ist man in der Frage, ob die Ukraine mit schweren Waffen beliefert werden soll, relativ gespalten. Es gibt viel Zustimmung, aber auch Ablehnung. Diese Spaltung möchte Putin vertiefen, indem er das Narrativ eines drohenden Atomkrieges nährt – teils mit Erfolg: Bisher zögern viele Nato-Staaten mit der Lieferung von Kampfpanzern.
Die Mitgliedsstaaten der westlichen Verteidigungsallianz sind wahrscheinlich relativ sicher vor einem russischen Angriff; trotzdem herrscht vor allem im Baltikum grosse Sorge vor diesem Szenario. Als ehemalige Sowjetrepubliken gehören sie für Putin zur russischen Einflussspähre, auch wenn die Länder im Baltikum mittlerweile Nato-Mitglieder sind.
Litauen setzt seit dem 17. Juni EU-Sanktionen um und beschränkt den Warenverkehr zwischen Russland und der russischen Exklave Kaliningrad. Das frühere ostpreussische Königsberg liegt an der Ostsee zwischen Litauen und Polen und hat keine direkte Landverbindung nach Russland. Litauens Aussenminister Gabrielius Landsbergis sagte am Rande von Beratungen der EU-Aussenminister in Luxemburg, die Transportbeschränkungen beträfen Stahlprodukte und andere Waren aus Eisenerz.
Nach Angaben des Gouverneurs von Kaliningrad, Anton Alichanow, könnten jedoch 40 bis 50 Prozent der Importe von der «Blockade» betroffen sein – neben Metall auch Kohle, Baumaterial und technologische Güter. Der Kreml sprach von einer «beispiellosen» Entscheidung Litauens, die gegen alle Grundsätze verstosse. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte: «Diese Entscheidung ist wirklich beispiellos und stellt eine Verletzung von allem dar». Sollte der Frachttransit zwischen Kaliningrad und dem Rest Russlands über litauisches Gebiet nicht rasch vollständig wiederhergestellt werden, behalte sich Russland «das Recht auf Handlungen zum Schutz seiner nationalen Interessen vor», warnte am Montag das Aussenministerium in Moskau.
Vor allem im Baltikum zeigt sich, dass Russland seine Soft Power schon in den vergangenen Jahren weitestgehend verloren hat. Soft Power bezeichnet nicht-wirtschaftliche und -militärische Mittel, Einfluss auf andere Staaten zu gewinnen, indem man sich für andere Länder als Vorbild inszeniert. Doch mit seiner aggressiven Machtpolitik hat Putin sich diesen Einfluss verspielt, kaum ein Nachbarstaat sieht Russland noch als Modell, dem man sich kulturell annähern möchte.
Da auch der wirtschaftliche und energiepolitische Einfluss Russlands auf das Baltikum immer weiter schwindet, bleibt dem Kreml auch hier nur die Drohung mit militärischer Gewalt: Da man bewusst offenlässt, wie die russische Reaktion auf die Blockade aussehen könnte, spielt man mit der Angst in den baltischen Staaten, zum nächsten Angriffsziel zu werden.
Anders sieht es in Ländern in der Nachbarschaft von Russland aus, die keine Schutzmacht besitzen. In der Republik Moldau und in Georgien sind schon russische Soldaten stationiert, und diese Länder bangen mit Blick auf den Ukraine-Krieg auch um ihre territoriale Integrität. Sie wissen: Kein Nato-Land wird einen Krieg mit Russland riskieren, um sie zu schützen.
Umso bemerkenswerter war, dass Kasachstans Präsident Kassym-Schomart Tokajew am Freitag die Anerkennung der prorussischen Marionettenrepubliken in Donezk und Luhansk ablehnte und auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker verwies. Bei dem Auftritt am Freitag in Sankt Petersburg liess sich Putin den Ärger nicht anmerken, doch nun verschärft sich der Ton zwischen Moskau und Nur-Sultan.
Hoffe Brüssel begreifft das langsam...