Die Sache eskalierte schnell: Nach einem kurzen Vorgeplänkel kam es am vergangenen Samstag innerhalb von wenigen Stunden zu einer diplomatischen Krise zwischen den Niederlanden und der Türkei. Wüste Szenen spielten sich in Rotterdam ab, als die Polizei die eigens aus Deutschland angereiste türkische Familienministerin aus dem Land spedierte und danach eine Demonstration von türkischen AKP-Anhängern gewaltsam auflöste.
Der Streit zwischen den beiden NATO-Ländern kommt zu einem kritischen Zeitpunkt: Die Niederländer wählen am 15. März ein neues Parlament. In der Türkei findet einen Monat später auf Betreiben der Regierungspartei AKP ein Verfassungsreferendum über die Einführung eines Präsidialsystems statt. Dessen Annahme würde Präsident Erdogan eine Machtfülle verschaffen, die Kritiker als diktatorisch bezeichnen.
Die Entscheidung des niederländischen Kabinetts, so kurz vor den Wahlen keine Auftritte von türkischen Ministern im Land zu gestatten, erscheint durchaus verständlich. Der Wahlkampf in dem Land kreist in hohem Masse um Fragen der Immigration und Integration – Themen, mit denen Geert Wilders die Regierung vor sich her treibt. Der Rechtspopulist hätte der Regierung jeden Auftritt eines türkischen Ministers als Rückgratlosigkeit angelastet – wie in diesem Tweet vom Samstag:
Turkse minister komt dus toch gewoon naar Rotterdam vandaag. Ongelooflijk.
— Geert Wilders (@geertwilderspvv) 11. März 2017
Rutte kan niet eens één Turk tegenhouden. Wat een slappeling. https://t.co/CpQQGQfPrq
Wilders, der seine PVV («Partij voor de vrijheid») als Ein-Mann-Partei führt, verfolgt ein politisches Programm, das jenes von US-Präsident Donald Trump harmlos erscheinen lässt: sofortiger Immigrationsstopp für Muslime, Moscheen schliessen, den Koran verbieten. Erst vor kurzem verurteilte ein Amsterdamer Gericht den Politiker wegen diskriminierender Äusserungen über die marokkanische Bevölkerungsgruppe in den Niederlanden.
Solche radikalen Forderungen sind in den Niederlanden nicht mehrheitsfähig. Dennoch kommt die PVV gemäss den letzten Umfragen auf 22 von 150 Sitzen im Parlament – das wäre ein Zuwachs von 7 Sitzen. Lange waren es sogar noch deutlich mehr; erst in den letzten Wochen wurde die Partei von der rechtsliberalen VVD («Volkspartij voor Vrijheid en Democratie») mit 24 Sitzen auf den zweiten Platz verwiesen.
Trotz dieser Erholung muss die VVD von Premierminister Mark Rutte fast mit einer Halbierung ihrer 41 Mandate rechnen. Den Sozialdemokraten der PvdA («Partij van de Arbeid»), dem Juniorpartner in der Regierungskoalition, droht gar ein Absturz in den einstelligen Bereich.
Dagegen schliessen die Christdemokraten vom CDA («Christen Democratisch Appèl») wieder zum Spitzenduo auf: Sie kommen laut der letzten Umfrage auf 22 Sitze. Auch die Grünen und die Sozialisten befinden sich demnach im Aufwind.
Doch alle diese Umfragen wurden vor den dramatischen Szenen vom letzten Samstag durchgeführt. Wer kann vom Konflikt mit der Türkei am meisten profitieren – Premier Rutte? Oder doch Rechtsausleger Wilders?
Mit seiner harten Haltung gegen Erdogan hat Rutte wohl zusätzlich Boden gut gemacht. Die niederländischen Medien sehen den Premierminister mehrheitlich als Gewinner. So schreibt das Algemeen Dagblad: «Jahrelang wollte sich Premier Rutte nicht vom Regime in Ankara provozieren lassen. Aber ein paar Tage vor den Wahlen war das Mass voll. Und das kommt ihm sehr gelegen.»
«Trouw» kommentiert: «Kurz vor den Wahlen erntet Premier Rutte Lob mit seiner Haltung gegenüber der Türkei.» Und nrc.nl stellt fest, der Konflikt zwischen der Türkei und den Niederlanden wirke sich auf jeden Fall vorteilhaft für Rutte und Erdogan aus.
Eine Umfrage des Instituts Maurice de Hond vom Sonntag zeigt, dass die Niederländer Ruttes Vorgehen mit überwältigender Mehrheit (86%) gutheissen. Aus der gleichen Umfrage geht aber auch hervor, dass die Befragten beim Thema Immigration und Integration von allen Parteien der PVV von Wilders am meisten zutrauen. 20 Prozent sind dieser Meinung, während Ruttes VVD im Vergleich dazu nur auf 13 Prozent kommt.
Dass Rutte der einzige Profiteur des Streits mit der Türkei sei, behauptet der Chef der kleinen Partei DENK, Tunahan Kuzu. Der türkischstämmige Politiker gründete die Partei, die als AKP-nah gilt, nachdem er aus der PvdA-Fraktion geworfen worden war.
Deze escalatie is ongekend en helpt niemand behalve #Rutte die omwille van de verkiezingen kiezers van #Wilders probeert af te snoepen.
— Tunahan Kuzu (@tunahankuzu) 12. März 2017
Möglicherweise kann aber auch Kuzu selbst von der aufgeheizten Stimmung profitieren. Von den knapp 400'000 «Nederturken», der grössten Migrantengruppe in den Niederlanden, besitzen rund drei Viertel die doppelte Staatsbürgerschaft. Viele von ihnen hegen Sympathien für die AKP – und könnten sich unter dem Eindruck des Streits mit der Türkei von den etablierten Parteien abwenden und ihre Stimme DENK geben.
Die grosse Frage aber lautet, ob es Wilders selbst gelingt, aus der diplomatischen Krise Profit zu schlagen. Es ist gut möglich, dass die Wähler aufgrund der Geschehnisse vom Samstag das Thema Immigration und Integration stärker gewichten werden als zuvor – und das dürfte Wilders nützen.
Diesen Montagabend trifft er in der ersten grossen TV-Debatte auf Rutte. Vermutlich wird er in den letzten Tagen des Wahlkampfs versuchen, den Streit mit der Türkei weiter anzuheizen. Er wird auch mit Sicherheit die «Nederturken» als Erdogans fünfte Kolonne qualifizieren. Damit könnte er die Verluste der letzten Wochen eventuell wieder gut machen.
Wilders wird zudem versuchen, Ruttes Entschlossenheit in Frage zu stellen: Nach den Wahlen werde der Premier – der in der Tat von Deeskalation spricht – wieder vor Ankara kuschen. Auch CDA-Chef Sybrand van Haersma Buma greift Rutte deswegen an. «Ich will, dass Rutte standhaft bleibt», sagte er am Sonntag in einer TV-Sendung.
Indes kann auch ein deutlicher Sieg der PVV Wilders nicht ins Amt des Premierministers hieven. Da alle anderen grossen Parteien eine Koalition mit der PVV kategorisch ausgeschlossen haben, müsste er dafür die absolute Mehrheit holen – was schlicht undenkbar ist.
Immerhin müsste Wilders aber, falls seine PVV die stärkste Partei wird, mit der Regierungsbildung beauftragt werden. Auch wenn er dies vermutlich ausschlagen würde, wäre ein solcher Erfolg Wasser auf die Mühlen der europäischen Rechtspopulisten.