Am Ende einer Schlacht: Ein Konvoi aus weissen Geländefahrzeugen mit roten Kreuzen rollte diese Woche ins Zentrum des Kriegsgebiets, um Zivilisten, Verwundete und Kinder aus Ost-Aleppo zu evakuieren. Vorausgegangen waren wochenlange Verhandlungen des IKRK. Für den Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes sind es ruhelose Tage. Mit der «Schweiz am Sonntag» spricht Peter Maurer in einer seiner wenigen Pausen über die Situation vor Ort.
Seit wenigen Tagen holen 60
IKRK-Mitarbeiter Menschen aus
den umkämpften Gebieten in
Ost-Aleppo. Wie viele konnten
Sie bisher evakuieren?
Peter Maurer: Bis jetzt haben wir
10'000 Menschen gerettet. Doch die
Situation vor Ort ist nach wie vor
dramatisch und sehr unübersichtlich.
Manche Menschen sind schon
lange in diesem Stadtteil eingeschlossen.
Sie suchen in zerstörten
Häusern oder unterirdisch in Kellern
Schutz. Erst nach und nach erfahren
sie von den Evakuierungen
und machen auf sich aufmerksam.
Wie viele noch auf Hilfe hoffen, können
wir nicht genau sagen. Wir gehen
davon aus, dass noch tausende
Menschen auf Rettung warten.
Geht die Evakuierung in dem
Ausmass weiter?
Wir hoffen es. Zwingend ist, dass
die Waffenruhe eingehalten wird,
damit der Konvoi durch den eigens
eingerichteten Sicherheits-Korridor
fahren kann. Doch die Situation
bleibt gefährlich. Ost-Aleppo ist
schwer zerstört. Auf den Strassen
liegen etliche Minen und Geschosse
herum, darum müssen wir vorsichtig
sein. Wir gehen davon, dass die
Evakuierung noch mehrere Tage
dauern wird.
Seit Wochen verhandelt das
IKRK mit allen Konfliktparteien.
Was bereitete Ihnen die grössten
Schwierigkeiten?
Ein Problem bestand darin, überhaupt
eine Verbindung mit der Regierung
und den Oppositionellen
herzustellen. Glücklicherweise hält
der Kontakt seit Tagen. Unsere Aufgabe
ist es, die Rahmenbedingungen
zu schaffen, damit die Gespräche zwischen den Parteien weitergehen.
Eine andere Schwierigkeit
bestand darin, die notwendigen
Kompromisse für die Evakuierung
zu finden. Es ging um Fragen wie:
Wer darf raus? Wer ist ein Zivilist?
Dürfen die Menschen bewaffnet
sein? Dürfen sie Munition mitnehmen?
Ausserdem mussten wir festlegen,
welche Rolle das IKRK und der
syrische Rote Halbmond bei der
Evakuierung spielen.
Was ist Ihnen besonders wichtig?
Wir möchten die Menschen von Beginn
bis Ende durch den Korridor
begleiten. Wir wollen den Anfang
und den Schluss des Konvois bilden,
sodass die Gruppe von Cars zusammenbleibt
und die Menschen sicher
sind. Dafür brauchen wir eine Serie
von Zusagen vor Ort. Wir müssen wissen, wer an welchem Check-Point
zuständig ist. Das macht es
kompliziert.
Noch immer warten Tausende Zivilisten,
darunter viele Kinder,
auf die Evakuierung. Hat die
Weltgemeinschaft versagt?
Unsere Erfahrung aus Konfliktgebieten
zeigt, dass diese Art von Verhandlungen
nicht vom Konferenztisch
aus geführt werden können.
Das muss vor Ort passieren. Die
Weltgemeinschaft sollte aber in einer
nächsten Phase Verantwortung
übernehmen. Es geht nun darum,
einen umfassenden Waffenstillstand
auszuhandeln. Darauf haben wir in
der Tat viele Jahre gewartet und
warten immer noch drauf.
Wie kann ein Friedensprozess in
Syrien aussehen?
Es braucht weitere diplomatische
Bemühungen, um eine Übergangsphase
von der gegenwärtigen zu einer
breiter abgestützten Regierung
zu schaffen. Um ehrlich zu sein, sehe
ich nicht, dass die Verhandlungen
schnell vorwärts kommen werden.
Wichtig ist es daher, erst einmal
eine Waffenruhe zu vereinbaren,
die länger hält als in der Vergangenheit.
Erst wenn eine gewisse
Beruhigung vor Ort stattfindet, können
die Konfliktparteien am Verhandlungstisch
weitergehende Kompromisse
vereinbaren. In Aleppo
gilt es nun, die Situation zu stabilisieren,
sodass humanitäre Organisationen
die Bevölkerung versorgen
können.
Wird der Konflikt nicht einfach
in eine andere Region getragen?
Wir müssen immer damit rechnen,
dass der Krieg weitergeht. Ich mache
mir keine Illusionen, wir können
nicht davon ausgehen, dass sich
die Situation im Rest des Landes beruhigt,
nur weil die Kämpfe in Aleppo
für ein paar Stunden oder Tage
gestoppt wurden.
Planen Sie demnächst, selbst
nach Syrien zu reisen?
Momentan nicht. Oft muss ich mich
allerdings kurzfristig in ein Krisengebiet
begeben. Das hängt davon
ab, ob es der Operation dient, wenn
der Präsident des IKRK die Gespräche vor Ort selber führt. Zurzeit
kann ich vom Hauptsitz in Genf am
besten helfen.
Wie kann die Schweiz im Krisengebiet
helfen?
Natürlich hilft es immer, wenn sich
Staaten engagieren, sei es vor Ort
oder finanziell. Dasselbe gilt für Privatpersonen.
Wer helfen will, spendet
am besten an eine humanitäre
Organisation, die im Krisengebiet tätig ist.
Die Amerikaner sind mit jährlich
400 Millionen die grössten Geldgeber
des IKRK. Fürchten Sie
durch den Präsidentenwechsel
Einbussen?
Ich bin zuversichtlich, dass die USA
weiterhin einen bedeutenden Beitrag
leisten werden. Wir haben in
der Vergangenheit hervorragend zusammengearbeitet,
beide Parteien
zählen aufeinander. Allerdings können
wir durch den Wechsel nicht
ausschliessen, dass es zu einer politischen
Dynamik kommt, die den
Beitrag ans IKRK infrage stellt.
UN-Botschafter beklagen die
«schlimmste humanitäre Katastrophe
des 21. Jahrhunderts.»
Kommen Sie zum gleichen
Schluss?
Jeder Konflikt hat seine eigenen
Charakteristika und Dynamiken.
Unsere Aufgabe ist es nicht, einen
Konflikt als schlimmer oder weniger
schlimm zu bezeichnen. Wir leben
die Idee einer unparteiischen Hilfe
vor. Wir sind zurzeit an 15 bis 20
Fronten tätig, neben Syrien in Afghanistan,
Irak, Sudan, Nigeria, Somalia
oder in der Ukraine. Dort
wird fast jeden Tag gekämpft. In der
Öffentlichkeit gibt es immer eine
Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung
und der Realität. Es ist gut,
dass die Weltgemeinschaft nach
Aleppo blickt, aber es gibt in vielen
anderen Gebieten ebenfalls schwere
Kämpfe. Wir arbeiten daran, die
Vertriebenen zu unterstützen. Das
hat für uns Priorität.