Kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion wurde diese Überbauung in Angriff genommen. Zur Fertigstellung kam es nie. bild: elena chernyshova
Interview
18.10.2018, 14:0920.12.2018, 14:24
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Unser Portrait der russischen Minenstadt Norilsk, 300 Kilometer über dem nördlichen Polarkreis, stiess auf sehr viel Interesse. Kein Wunder, die Stadt ist in vielerlei Hinsicht extrem: extrem vergiftet, extrem kalt, extrem abgeschottet. Nicht-Russen haben nur mit Spezialbewilligungen Zutritt.
Hier geht es zum Portrait von Norilsk
Elena Chernyshova, 34, ist eine mehrfach preisgekrönte russische Fotografin mit Publikationen im «National Geographic», «Geo», «6 Mois», «Stern», «Le Figaro», «Le Monde» und vielen anderen.
Eine, die eine längere Zeit dort verbrachte ist die russische Fotografin Elena Chernyshova. Während drei Besuchen in den Jahren 2012 und 2013 verbrachte sie alles in allem acht Monate in Norilsk. Mit der dabei entstandenen Photoreportage, deren Bilder wir zeigen dürfen, erreichte sie bei den World-Press-Photo-Awards 2014 den dritten Platz. Wir haben mit Elena Chernyshova gesprochen und sie gefragt, ob Norilsk wirklich «no fun» sei. «Im Gegenteil», lautet die überraschende Antwort.
Kaum stieg ich aus dem Flugzeug, roch ich die Umweltverschmutzung. Es war ein leicht süsslicher Gestank, der über dem Flughafengelände hing. Später lernte ich zu differenzieren. Jede der drei grossen Fabriken, das Kohlewerk, die Nickelhütte und das riesige Metallverarbeitungszentrum, haben ihre eigene Duftnote. Je nachdem, woher der Wind kam, veränderte sich auch der Gestank in der Stadt.
elena chernyshova im gespräch mit watson.ch
Lange Buskonvois bringen die Arbeiter in die drei grossen Fabriken, die Kohlegrube, die Nickelminen und Schmelzen und die Metallfabrik. Steigt ein Bus aus oder verunfallt er, werden die Insassen auf die anderen Busse verteilt. bild: elena chernyshova
Als ich in die Stadt fuhr, fühlte ich mich wie in einem Film. Diese eigenartig schöne Landschaft, visuell unglaublich interessant. Und dann diese enormen Fabrikgelände mitten im Nirgendwo.
Elena chernyshova
Anna Vasilievna Bigus wurde mit 19 Jahren von ihren Eltern getrennt und nach Sibirien verfrachtet. Im Gulag war die einzige Freude das Singen – Annas Tochter wurde Musiklehrerin, ihre Enkelin Opernsängerin. 18'000 Zwangsarbeiter starben beim Bau der Stadt.bild: elena chernyshova
Die Leute empfingen mich sehr herzlich. Überhaupt sind die Norilsker sehr offenherzige und freundliche Menschen. Vielleicht liegt das daran, dass bis vor Kurzem das Internet mehr schlecht als recht funktionierte und die Menschen tatsächlich miteinander sprachen und nicht auf Social Media Zeit vertrödeln.
elena chernyshova
Eigentlich als Provisorium gedacht, dominieren die viele Plattenbauten aus den 70er-Jahren noch immer das Stadtbild von Norilsk. bild: elena chernyshova
Nach einer Weile vergisst man die Umweltverschmutzung – bis wieder einmal eine besonders schlimme Gaswolke durch die Häuser zieht. Dann schliesst man sich in der Wohnung ein und wartet, bis der Spuk vorbei ist.
elena chernyshova
Eis, Schnee und die Dunkelheit sorgen dafür, dass das soziale Leben vor allem in Privatwohnungen stattfindet. UV-Lampen gegen Depressionen und andere Krankheiten sind in fast jedem Haus zu finden.bild: elena chernyshova
Ich habe sehr schnell Freunde gefunden in Norilsk. Freundschaften, die ich noch heute hege und pflege.
elena chernyshova
Schutz vor den beissenden Winden bieten die vielen Innenhöfe. Sie sind mit schmalen Gassen untereinander verbunden.bild: elena chernyshova
Die Kälte hier ist sehr trocken. Wenn man sich entsprechend anzieht und es nicht stürmt, sind -50 Grad kein Problem. In Moskau hingegen friere ich bei -15 Grad, weil es einfach viel feuchter ist.
elena chernyshova
130 Tage im Jahr toben hier Schneestürme – ein Paradies für Endzeitromantiker.Bild: bild: elena chernyshova
An die Polarnächte kann man sich nicht wirklich gewöhnen. Sie sind schrecklich. Keine Sonne für fast zwei Monate ist zermürbend.
elena chernyshova
Das Bad im Eiswasser gehört in Norilsk zur Tradition.bild: elena chernyshova
Viele Menschen haben UV-Lampen oder sie gehen ins Solarium, aber ich glaube, dass das kein Ersatz ist für echtes Sonnenlicht. Immerhin wachsen so Pflanzen und manche Einheimische haben einen richtigen Garten im Wohnzimmer.
elena chernyshova
Ab Dezember bis Mitte Januar schafft es die Sonne nicht über den Horizont.bild: elena chernyshova
In Norilsk selber gibt es nur eine Bäckerei und eine Fabrik für Milchprodukte. Die Milch stammt nicht von hier. Hier wird nur Trockenmilch verarbeitet. Rentierfleisch von der Jagd oder Fisch sind die anderen lokalen Spezialitäten. Der Rest wird importiert.
elena chernyshova
Wie vielerorts in Russland ist Sport beliebt. Fussballnationalspieler Dmitri Torbinski wurde hier geboren. Oder der Bronzenmedaillengewinner der Olympischen Spiele von 1972 im 100 Meter Freistilschwimmen Vladimir Bure – der Vater des berühmten Eishockeyspielers Pavel Bure. bild: elena chernyshova
Die Einheimischen schützen sich in der Regel nicht vor der Umweltverschmutzung, auch nicht die Kinder oder Babies. Ein ranghoher Angestellter des Spitals sagte mir, die Umweltverschmutzung sei nur ein Einflussfaktor von vielen für die generelle Gesundheit der Leute. Die Leute glauben, sie seien gesund.
elena chernyshova
56 Prozent der Einwohner von Norilsk arbeiten in der lokalen Metallindustrie. Drei von vier Minen sind unter Tage, das Tunnelsystem ist über 800 Kilometer lang. Im Zuge der Privatisierung in den 90ern wurde die Industrie in Norilsk zu Preisen weit unter Marktwert an Oligarchen verscherbelt. Seither wird der Raubbau an Mensch und Natur noch intensiviert – unter anderem auch von Roman Abramowitsch, dem 7,3 Prozent der Betreiberfirma Nornickel gehört.bild: elena chernyshova
Nach dem Gulag war Norilsk sehr beliebt. Die Löhne waren hoch und die Jobs sicher. Einfache Arbeiter konnten sich einen Wochenendausflug mit dem Flugzeug nach Moskau leisten. Seit der Privatisierung wird der Reichtum anders verteilt und die Löhne sind nicht mehr besser, als anderswo in Russland.
elena chernyshova
In Norilsk gibt es keine Grünflächen. Eine ausgedehnte Parkanlage war zwar geplant, wurde aber nie fertig gestellt. Übers Wochenende wegfahren geht nicht. Norilsk ist vom Rest der Welt komplett abgeschnitten.bild: elena chernyshova
Die Umweltverschmutzung ist im Sommer viel intensiver spürbar als im Winter, weil die Gase bei warmen Temperaturen weniger schnell entweichen. Manchmal wird man von einer richtigen Giftwolke erfasst. Ich als Asthmatikerin bekam jeweils Atemnot, obwohl das wohl mehr mit mir als mit der Luftverschmutzung zu tun hat.
elena chernyshova
Norilskerinnen an der «Mechanika» – der einzigen Disco in der Stadt mit zeitgenössischer Musik. bild: elena chernyshova
Jeden Abend gibt es eine private Party bei jemandem zuhause. Es gibt auch ein paar Clubs und ein paar Bars, aber die haben keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Dafür organisieren musikbesessene Minenarbeiter einmal pro Monat die Disco «Mechanica». Um möglichst neue und zeitgenössische Musik präsentieren zu können, reisen sie extra auf den «Kontinent», wie alles ausserhalb von Norilsk genannt wird. Anders kam man damals nicht an neue Musik. Heute ist das anders.
elena chernyshova
Die Geburtenrate von Norilsk liegt über dem nationalen Durchschnitt. Aufgrund von überproportional vielen Komplikationen ist auch die Kaiserschnittquote sehr hoch. bild: elena chernyshova
Wenn es etwas gibt, das die Leute von Norilsk von den anderen Russen unterscheidet, dann ist es lediglich ihr ausgeprägter Sinn für Humor. Vermutlich ist er eine Art Schutz vor den widrigen Lebensumständen. Noch nie habe ich so viel gelacht, wie während meiner Zeit in Norilsk.
elena chernyshova
Das Risiko, an Krebs zu erkranken, ist laut einer Studie des Blacksmith Institutes in Norilsk doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Die selbe Studie bescheinigt den Norilskern eine 10 Jahre kürzere Lebenserwartung.bild: elena chernyshova
Ich persönlich traue den Studien nicht, die behaupten, dass das Krebsrisiko hier doppelt so gross sei. Wie will man das messen? Norilsk hat fast keine stetige Wohnbevölkerung. Die Leute kommen hierher um zu arbeiten und gehen nach ein paar Jahren wieder. Natürlich gibt es hier viele Krebsfälle, aber auf nationaler Ebene liegt Moskau, so viel ich weiss, vorn.
elena chernyshova
Aufgrund der hohen Schwefeldioxid-Konzentration in der Luft fällt immer wieder saurer Regen. Beeren und Pilze sind derart vergiftet, dass es verboten ist, sie zu pfücken und zu essen. bild: elena chernyshova
In einem Gebiet rund 30 Kilometer rund um Norilsk ist die Natur fast komplett zerstört. Doch dahinter finden sich wunderbare Landschaften, Tundragebiete, Wälder zum Jagen und Berge. Beim nahegelegenen Putorana-Gebirge gibt es einen riesigen Naturschutzpark – einen der grössten von ganz Russland.
elena chernyshova
Abgeschiedenheit, Eis und Gift – wer hier aufwächst, ist besonders widerstandsfähig. Kein Wunder wachsen hier besondere Menschen heran. Zum Beispiel Nadezhda Tolokonnikova (nicht im Bild), das Gesicht der Widerstandsbewegung Pussy Riot. bild: elena chernyshova
Dieses Mädchen war das einzige, das ich mit einer Schutzmaske sah. Sie war erst gerade zwei Wochen in Norilsk und hatte Mühe mit der Atmung. Noch immer zieht diese Stadt viele Leute aus Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit an. Jobs gibt es hier genug. Die Kälte und die Umweltverschmutzung sind weniger schlimm, als nicht für seine Familie sorgen zu können. Hier ermöglichen Arbeiter ihren Kindern eine Ausbildung, ein Studium und ein anständiges Leben – in der Regel ausserhalb von Norilsk.
elena chernyshova
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Los geht die wilde Spritztour in den sicheren Hafen der Ehe!
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