Nationalistische
und populistische Kräfte sind in Europa im Aufwind. In Italien
regieren sie gemeinsam. Ist die EU für ihren Erfolg
mitverantwortlich?
Petros Fassoulas: Die Populisten
attackieren die EU, aber ihr Erfolg beruht auf nationalen
Befindlichkeiten wie Arbeitslosigkeit oder sozialen Problemen. Es ist
sehr einfach, die EU dafür verantwortlich zu machen. Sie ist nicht
frei von Verantwortung, sie kann mehr tun, um die Lebensbedingungen
zu verbessern und die Populisten zu «entzaubern». Aber sie ist
nicht die Hauptschuldige für ihren Erfolg.
Trotzdem könnte
diese Entwicklung die EU zerstören.
Umfragen zeigen,
dass die Unterstützung für die Europäische Union zunimmt. Eine
grosse Mehrheit befürwortet sie, häufig traut sie ihr sogar mehr
als den nationalen Institutionen. Viele Menschen scheinen verstanden
zu haben, dass es in der heutigen Welt ein starkes Europa braucht.
Das ist eine Chance für die EU, die sie weise nutzen sollte.
Wie soll das
geschehen?
Wir leben in einer
unsicheren Welt, die sich schnell verändert. Unsere Bürgerinnen und
Bürger fühlen sich herausgefordert. Die EU muss eine Antwort
darauf finden. Sie kann wenig tun, wenn es um Bildung oder Gesundheit
geht, diese Bereiche fallen in die Kompetenz der Mitgliedstaaten.
Trotzdem gibt es Möglichkeiten für die EU, mehr zu tun. Die
Europäische Bewegung etwa hat sich immer dafür eingesetzt, die EU
zu verbessern. Wir wollen die Demokratie stärken, indem die
Bevölkerung vermehrt in die Entscheidungen einbezogen wird.
Das sind
langfristige Ziele. Derzeit aber haben wir einen US-Präsidenten, der
seine westlichen Verbündeten offen attackiert.
Die USA haben stets
ihre nationalen Interessen verfolgt. Aber es gab immer Bestrebungen, sie mit den
Interessen Europas in Einklang zu bringen. Die derzeitige
US-Regierung verfolgt ihre Interessen in Konkurrenz zu Europa. Das
ist eine sehr gefährliche Situation für unseren Kontinent. Wenn wir
keine Antwort darauf finden, werden wir verlieren. Amerika kann sehr
gut für sich selber sorgen, es verfügt über die nötigen
Ressourcen.
Könnte eine
gemeinsame Verteidigungspolitik eine Antwort sein?
Dazu trägt auch der
Austritt Grossbritanniens aus der EU bei. Das Königreich ist ein
wichtiger Player in der Aussen- und Sicherheitspolitik. Wenn es die
EU verlässt, müssen die übrigen Mitglieder, ob gross oder klein,
enger zusammenarbeiten. Wir können uns nicht länger auf die
Amerikaner und Briten verlassen. Wir müssen uns auch klar werden,
was wir unter Sicherheit und Verteidigung verstehen. Sollen wir in
Waffen investieren, den Grenzschutz, die Geheimdienste,
Entwicklungshilfe? Die Bedrohungen sind nicht nur militärischer Art.
Sie betreffen die Umwelt, die Migration, Ressourcenmangel. Europa
kann diese Herausforderungen nur gemeinsam bewältigen.
Ist Europa damit
auf guten Wegen?
Wir bauen immer noch
am Fundament. Das mag bescheiden wirken, und doch sind wir schon weit
gekommen. Verteidigung war immer die Domäne der Nationalstaaten.
Allein die Tatsache, dass sich die Erkenntnis langsam durchsetzt, man
müsse mehr gemeinsam machen, ist ermutigend. Ich erwarte, dass mehr
geschieht, typisch europäisch, langsam, mit möglichst allen an
Bord.
Es ist nicht
einfach, 27 Mitgliedstaaten unter einen Hut zu bringen.
Das soll es auch
nicht. Unsere Organisation, die Europäische Bewegung International,
umfasst 75 Mitglieder. Es ist nicht leicht, einen Kompromiss zu
finden. Aber nur so hat man Erfolg. Es soll ein schwieriger Prozess
sein, denn nur auf diese Weise hat jeder das Gefühl, einbezogen zu
werden.
In Osteuropa
scheint eher das Trennende zu dominieren, vor allem in Polen und
Ungarn.
Die Erweiterung und
Wiedervereinigung Europas ist eine grosse Erfolgsgeschichte.
Gleichzeitig war sie ein Fehlschlag, weil wir die nötigen
Folgeinvestitionen versäumt haben. Ich spreche nicht von Geld, es
ist viel dorthin geflossen. Aber wir haben nicht in die Stärkung der
Zivilgesellschaft und in den Aufbau der Institutionen investiert. Der
Erfolg der illiberalen Regime, wie Viktor Orban sie nennt, oder
alternativen Regierungsformen, wie wir sie in Polen sehen, hat viel
damit zu tun, dass die Zivilgesellschaft nicht stark genug war.
Was ist schief
gelaufen?
Es gab sehr starke
proeuropäische Bewegungen in diesen Ländern, als sie den
EU-Beitritt anstrebten. Nachdem er erfolgt war, wurde ihnen die
Unterstützung entzogen. Die Menschen fühlten sich im Stich gelassen
und ignoriert. Weshalb sie
sich mit der Zeit von den Mainstream-Politikern abwandten, die sich
für die europäische Integration einsetzen.
Wie gross ist das
Bedrohungspotenzial für die EU?
Demonstrationen in
diesen Ländern zeigen eine immer noch grosse Unterstützung für
Europa und die EU. Zehntausende oder Hunderttausende gingen in Polen
mit der Europaflagge auf die Strassen. Gleiches geschah in Ungarn,
nachdem die Regierung Orban die Zentraleuropäische Universität
angegriffen hatte. Der Glaube an Europa als Hort von Demokratie,
Rechtsstaat und Menschenrechten ist immer noch vorhanden.
Darauf müssen wir aufbauen. Statt uns mit den Regierungen zu
beschäftigen und sie zu bestrafen, sollten wir die Zivilgesellschaft
stärken.
Ein ungelöstes
Problem ist die Eurokrise, der Reformelan ist erlahmt.
Auf dem Höhepunkt
der Finanz- und Schuldenkrise gab es zahlreiche Aktivitäten der EU
mit einer Geschwindigkeit und einem Ehrgeiz, wie wir es noch nie
erlebt hatten. Aber ich gebe zu, dass die Dringlichkeit abgenommen
hat, seit die Krise entschärft wurde und die Wirtschaft sich erholt
hat. Das liegt in der Natur des Menschen. Bei schönem Wetter liegt
man lieber an der Sonne, statt auf dem Dach zu arbeiten. Wir müssen
uns wieder verstärkt einer Reform der Eurozone widmen, damit wir mit
der nächsten Krise fertig werden, die unweigerlich kommen wird.
Was sollte Ihrer Ansicht nach getan werden?
Wir sind heute
besser auf eine Krise vorbereitet, aber wir brauchen eine Art
Fiskalunion, trotz Widerständen von verschiedenen Seiten. Eine
Wirtschafts- und Währungsunion ohne Fiskalunion funktioniert nicht.
Weiter müssen wir das Finanzsystem besser verstehen und in ein
soziales Netz investieren, das Staaten, Institutionen und Menschen
schützt. Und wir müssen die europäische Wirtschaft
stärken, mit Investitionen in Bildung und Digitalisierung.
Emmanuel Macron
hat grosse Pläne für die Eurozone. Wird Angela Merkel ihm folgen?
Deutschland und
Frankreich sind der Motor, der stets den Karren gezogen hat. Aber wir
müssen vorsichtig sein und nicht alle Hoffnungen auf zwei Länder
oder Menschen konzentrieren. So funktioniert die EU nicht. Ich
unterstütze viele von Macrons Ideen, verstehe aber auch die deutsche
Zurückhaltung. Es geht nicht nur um eine Fiskalunion, sondern auch
um Vertrauen. Das fehlt heute, deshalb habe ich Verständnis für
Deutschland.
Die
Flüchtlingskrise ist ein anderes grosses Thema. Griechenland und
Italien fühlen sich allein gelassen.
Erst einmal müssen
wir akzeptieren, dass dies keine Ausnahmesituation ist. Wir müssen
mit Ähnlichem rechnen, aufgrund der ökologischen, geopolitischen
und wirtschaftlichen Bedingungen. Die Festung Europa ist keine
Lösung, sie ist nicht machbar und unmenschlich. Sie ist nicht der
europäische Weg. Solidarität gehört zu den europäischen
Prinzipien, nicht nur mit uns, sondern mit dem Rest der Welt. Wir
können diese Herausforderung nur kollektiv bewältigen.
Durch eine Reform
des Dublin-Abkommens?
Das heutige System
ist unfair, es bürdet wenigen Ländern eine grosse Last auf. Sie
sind geografisch exponiert oder haben wie Deutschland Verantwortung
übernommen. Wir brauchen dringend eine gemeinsame europäische
Lösung, um mit diesen Krisen umzugehen. Die Nationen haben bislang
versagt, und wir werden das bereuen, denn es bieten sich grosse
Möglichkeiten, wirtschaftlich und im Hinblick auf die Demografie.
Woran denken Sie?
Diese «neuen
Europäer», wie ich sie nenne, haben viel zu bieten. Eine unserer
Mitgliederorganisationen vertritt Kleinunternehmer mit einem
Migrationshintergrund. Sie liefern einen positiven Beitrag zur
Wirtschaft. Es gibt auch eine moralische Dimension. Amerika driftet
weg, undemokratische Regime in Russland und China sind auf dem
Vormarsch. Europa kann ein Leuchtturm für Demokratie und Moral sein,
aber das gelingt nur, wenn wir die Krise vor unserer Haustüre
bewältigen. Wir müssen aber darauf achten, dass unsere Bürgerinnen
und Bürger sich nicht marginalisiert oder ausgeschlossen fühlen.
Die Integration muss auf nachhaltige Art erfolgen.
Was bedeutet das
konkret?
Die Ankunft dieser «neuen Europäer» darf sich nicht auf einzelne Regionen
konzentrieren, sie muss verteilt werden, auf den ganzen Kontinent.
Und die Menschen, die sich wirtschaftlich abgehängt fühlen, müssen
verstehen, dass nicht die Migranten oder Flüchtlinge daran schuld
sind, sondern andere Faktoren. Wir müssen in diese Leute
investieren, dann werden wir einen Wandel in der politischen
Einstellung erleben. Bis es so weit ist, müssen wir uns gegen die
xenophobe Rhetorik zur Wehr setzen, die die wirtschaftliche
Unsicherheit für ihre Zwecke instrumentalisiert.
Glauben Sie, dass
dies gelingen wird? Oder werden Parteien wie die AfD profitieren?
Deutschland hat
vorgemacht, dass man diese Herausforderung bewältigen kann. Das
lässt sich in anderen Ländern wiederholen. Der Aufstieg der extrem
rechten Parteien wurde durch die Flüchtlingskrise verstärkt, aber
er lässt sich nicht allein darauf zurückführen. Deutschland ist
wirtschaftlich sehr erfolgreich, aber viele fühlen sich abgehängt,
deshalb wenden sie sich populistischen Parteien wie der AfD zu. Ihr
Erfolg ist auf ihre Fähigkeit zurückführen, unpopuläre Ansichten
zu verschleiern und für ein breites Publikum geniessbar zu machen.
Rassistische Ansichten werden mit einer Anti-Flüchtlings-Rhetorik
kaschiert. Aber die AfD hat dennoch keinen sehr grossen Wähleranteil
gewonnen. Ich sehe eine grössere Gefahr im Niedergang von
Mainstream-Parteien wie den Sozialdemokraten. Vieles ist zur Norm
geworden, wofür sie sich eingesetzt hatten. Es ist schwierig, für
etwas zu kämpfen, was bereits erreicht wurde.
Das
Links-Rechts-Schema scheint ohnehin überholt. Die Politik dürfte
vermehrt durch den Gegensatz zwischen Weltoffenheit und Abschottung
geprägt sein.
Der Zusammenbruch
der etablierten Parteien erschüttert die Balance des politischen
Systems. Das muss nicht schlecht sein. Es ist toll, dass neue
Parteien und Ideen entstehen. Aber sie müssen das Vakuum mit der
richtigen Botschaft füllen. Die Menschen suchen nach Antworten. Wenn
wir sie nicht liefern, entsteht Raum für die Populisten und
Extremisten, um den politischen Diskurs zu dominieren. Emmanuel
Macron hat es in Frankreich geschafft, eine Alternative zu bieten.
Das ist in anderen Ländern nicht geschehen, wäre aber sehr wichtig.
Macron will mit
seiner Partei bei den Europawahlen 2019 in möglichst vielen Ländern
antreten.
Ich befürworte
paneuropäische Initiativen, habe aber Vorbehalte gegenüber
imperialen Ideen, den Versuch, eine Partei als dominante Kraft in
vielen Ländern zu etablieren. Ich glaube an Vielfalt und Diversität
und die lokale Entstehung politischer Bewegungen. Wir müssen
aufpassen, dass Macron nicht ein Opfer seines eigenen Erfolgs wird
(lacht). Aber die Idee gesamteuropäischer politischer Vehikel ist
sehr willkommen. Ich ermutige alle politische Familien, diesen Weg zu
gehen. Macron hat die anderen Parteien herausgefordert, und sie werden
hoffentlich reagieren.
Der Brexit
belastet die EU ebenfalls. Wie ist es dazu gekommen?
Bevor ich 2015 nach
Brüssel kam, lebte ich zehn Jahre in Grossbritannien. Ein Jahr vor
dem Referendum zog ich weg, habe es aber genau mitverfolgt. Es war
ein Paradebeispiel für Vernachlässigung. Jahrelang hat sich kaum
jemand für Europa eingesetzt. Die wenigen, die es taten, wurden
ignoriert. Wenn man die Pflanzen in einem Garten nicht pflegt,
verkümmern sie.
Wie wird sich die
Sache entwickeln?
Der Ausgang der
Abstimmung war ein mächtiger Weckruf. Seitdem hat sich eine Debatte
entwickelt, die im Vorfeld hätte geführt werden müssen. Es geht um
die Vorzüge der EU-Mitgliedschaft. Endlich wird darüber diskutiert,
und das könnte den Ausschlag geben. Unsere Organisation hat eine
starke Präsenz im Königreich und setzt sich für eine Abstimmung
über den endgültigen Deal mit der EU ein. Wir verlangen nicht, dass
der Entscheid von 2016 rückgängig gemacht wird, aber die Menschen
sollen über das Endergebnis abstimmen können. Wenn sie damit nicht
zufrieden sind, sollen sie die Möglichkeit erhalten, doch in der EU
zu bleiben.
Könnte das
Brexit-Abenteuer die EU am Ende stärken?
Viele EU-Länder
haben nach dem Brexit-Entscheid die Vorzüge der Mitgliedschaft
entdeckt. Darum haben sich die Reihen geschlossen. Ich habe vor der
Abstimmung in Grossbritannien an vielen Debatten teilgenommen, stets
hiess es, die EU werde zusammenbrechen. Das Gegenteil ist passiert.
Wir bemerken das auch, in vielen Ländern hat die Zahl unserer
Mitglieder zugenommen, weil Grossbritannien die EU verlassen will.
Das ist eine sehr positive Entwicklung.
Vielleicht müssen
wir in der Schweiz eine ähnliche Erfahrung machen. Wenn wir gegen
die bilateralen Verträge stimmen, erkennen wir erst in ihren Wert.
Das ist die
menschliche Natur. Wir erkennen erst, was wir an einer Sache haben,
wenn sie nicht mehr existiert.