Im Nordirak haben Zehntausende Kurden trotz internationaler Kritik für einen unabhängigen Staat demonstriert. Rund 40'000 Menschen jubelten dem kurdischen Präsidenten Massud Barsani im Franso-Hariri-Stadion von Erbil zu.
«Alle sagen uns Tag und Nacht, dass wir das Referendum verschieben sollen», sagte Barsani bei der Abschlusskundgebung seiner Kampagne am Freitag in Erbil. «Das Referendum soll keine Grenzen ziehen, sondern ist ein erster Schritt unabhängig zu werden.»
Er sei weiter zu offenen Gesprächen ohne Vorbedingungen bereit, betonte Barsani, aber erst nach dem Referendum am kommenden Montag. Die Menge im Franso-Hariri-Stadion schwenkte kurdische Fahnen, tanzte und feierte ausgelassen. Immer wieder riefen die Menschen:«Ja, ja» und drückten damit ihre Unterstützung für das Referendum und einen unabhängigen Kurden-Staat aus.
Am Montag (25. September) wollen die Kurden über die Unabhängigkeit vom Irak abstimmen lassen. Trotz internationaler Kritik hält die kurdische Regierung an ihren Plänen fest. «Sie sagen seit hunderten Jahren, dass die Zeit nicht richtig sei», sagte Barsani. «Jetzt liegt es nicht mehr in meiner Hand, sondern in Eurer!»
Der UNO-Sicherheitsrat hatte sich besorgt über das Referendum gezeigt. Die Abstimmung finde während der noch laufenden Militäreinsätze gegen die Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS) statt, bei denen kurdische Kämpfer eine entscheidende Rolle spielten, teilte das höchste UN-Gremium in einer gemeinsamen Erklärung mit.
Der Sicherheitsrat respektiere weiter die Hoheit, Unversehrtheit und Einheit des Irak. Offene Fragen zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der kurdischen Autonomieregierung müssten unter Einhaltung der irakischen Verfassung und durch Dialog geklärt werden.
Kurden-Präsident Barsani betonte, dass sich die kurdischen Peschmerga-Kämpfer weiter am Kampf gegen den «IS» beteiligen werden. Auch Befürchtungen der internationalen Gemeinschaft über das Wohlergehen hunderttausender Flüchtlinge in Kurdistan wies Barsani zurück. «Diese Menschen sind unsere Brüder und unsere Gäste.»
Das oberste Bundesgericht des Iraks hatte das Referendum in der vergangenen Woche für verfassungswidrig erklärt und einen Stopp angeordnet. Auch die USA und die Nachbarländer Türkei und Iran hatten die Kurden aufgefordert, das Referendum über die Unabhängigkeit zu verschieben.
Am letzten Tag der Kampagne für oder gegen das Referendum sind auch die Kritiker im Nordirak auf die Strassen gegangen. Hunderte Menschen demonstrierten in der Nachbarprovinz Ninive gegen die Abspaltung vom Irak. Unter den Teilnehmern seien unter anderen christliche Gemeinschaften, Turkmenen und Araber gewesen, teilten die Veranstalter mit. Sie unterstützten die Einheit des Iraks und stellten sich gegen die Teilung und Fragmentierung des Landes.
Beobachter fürchten, dass der ohnehin instabile Irak weiter zerfallen könnte. Aber selbst bei einer Zustimmung beim Referendum erscheint es unwahrscheinlich, dass die Kurden in naher Zukunft einen eigenen Staat bekommen. Die Abstimmung ist rechtlich nicht bindend. Schon heute geniessen die autonomen Gebiete im Nordirak viele Rechte eines Staates.
Mit 25 bis 35 Millionen Angehörigen gelten die Kurden als das grösste Volk ohne eigenen Staat. Verteilt auf die Türkei, den Iran, den Irak und Syrien kämpfen die Kurden seit Jahrzehnten um Anerkennung, Autonomie oder Unabhängigkeit.
Die Kurden bilden keine Einheit, sondern sind aufgeteilt in verschiedene sprachliche, konfessionelle und politische Gruppen, die sich teils untereinander offen bekämpfen.
Die Kurden leben in überwiegend gebirgigen Gegenden, die von Zentralanatolien über Nordsyrien und den Nordirak bis in den Iran reichen. Mit 12 bis 15 Millionen lebt die grösste Gruppe der Kurden in der Türkei, wo sie rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen. Sechs Millionen leben im Iran, 4,7 Millionen im Irak und mehr als zwei Millionen in Syrien.
Zudem gibt es grosse Exilgruppen in Armenien, Aserbaidschan, Deutschland und dem Libanon. Die Gesellschaft der Kurden ist bis heute stark durch Stammesloyalitäten geprägt. Die Mehrheit der Kurden sind sunnitische Muslime, doch gibt es auch Christen, Aleviten und Mitglieder anderer Religionsgruppen. Gesprochen wird eine Reihe teils stark unterschiedlicher Dialekte.
Die Heimatländer der Kurden sehen deren Kampf um die Anerkennung ihrer Identität als Bedrohung der nationalen Einheit. Besonders die Türkei hat die Existenz der Kurden jahrzehntelang verleugnet, ihre Sprache verboten und jegliche kurdische Autonomiebestrebungen unterdrückt.
Auf den Aufstand der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 1984 reagierte Ankara mit grosser Härte. Im Konflikt wurden mehr als 40'000 Menschen getötet, zuletzt scheiterte 2015 eine Initiative zur Beilegung des Konflikts. Im Iran wurde 1946 eine kurdische Republik zerschlagen, bis heute kämpft dort die Rebellengruppe PJAK für mehr Autonomie. Auch im Irak und Syrien gab es wiederholt Aufstände, doch haben die Kurden dort inzwischen weitgehende Autonomie erkämpft.
Im Irak erreichten die Kurden nach dem Golfkrieg 1991 und einem Aufstand gegen Diktator Saddam Hussein weitgehende Eigenständigkeit. Mit der Verfassung von 2005 erhielt ihr Siedlungsgebiet auch offiziell den Status einer Autonomieregion mit einer eigenen Regierung, einem eigenen Parlament und einem eigenen Haushalt.
Allerdings sind die irakischen Kurden zwischen der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) gespalten, die sich von 1994 bis 1998 einen blutigen Bürgerkrieg lieferten. Im Juni 2017 setzte Kurdenpräsident Massud Barsani (DPK) für September ein umstrittenes Referendum über die Unabhängigkeit der Region vom Irak an.
In Nordsyrien haben die Kurden die Wirren des syrischen Bürgerkriegs seit 2011 nutzen können, um weitgehende Autonomie zu erreichen. Kontrolliert werden die drei Kantone der Kurden entlang der türkischen Grenze von der Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihrem militärischen Arm, den Volksverteidigungseinheiten (YPG).
Während die USA die PYD im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) mit Waffen unterstützen, betrachtet die Türkei die Partei wegen ihrer Nähe zur PKK als Terrororganisation. Ankara fürchtet, dass ein kurdischer Staat in Nordsyrien die PKK weiter stärkt, und hat wiederholt gewarnt, eine Abspaltung der Kurden nicht zuzulassen. (sda/afp)