Seit der «IS» Mossul kontrolliert, dringen kaum noch unabhängige Nachrichten aus der irakischen Millionenstadt nach draussen. Wie ist es den Bewohnern unter der Schreckensherrschaft ergangen? Wie sehen sie der nahenden Befreiung entgegen? Ein Historiker und Bewohner Mossuls versucht seit zwei Jahren, mit seinem Blog «Mosul Eye» solche Fragen zu beantworten. Seine Identität ist geheim, denn sollte ihn der «IS» erwischen, ist ihm der Tod gewiss.
Eine Auswahl seiner Posts der vergangenen zwei Wochen:
Die Ruhe überwiegt immer noch in Mossul. Heute Nacht werde ich nicht über meine Angst schreiben, sondern über meine Träume.
(...)
Nachdem ich stundenlang durch die Strassen Mossuls gewandert und Zeuge der Absurdität des «IS» und der Zerstörung der Stadt geworden bin, hilft mir nichts mehr, als mich zuhause hinzusetzen, eine Kerze anzuzünden und Mozarts Violinkonzert Nr. 3 von Yehudi Menuhin zu hören. Nur das gibt mir das Gefühl, am Leben zu sein und am Leben bleiben zu können.
(...)
Mein Traum ist es, ein Opernhaus, ein Konservatorium und eine Balletschule in Mossul zu errichten.
(...)
Mehr als alles andere motiviert mich, dass ich die letzten zwei Jahre überstanden und den Kalifen mit Worten und Musik bekämpft habe.
Man spürt die Kämpfe in den Aussenbezirken Mossuls. Ja, wir spüren den Krieg, aber bislang geht das Leben in der Stadt weiter. Auf den Märkten ist viel los, die Preise sind hoch. Einige Preise sind fix, aber weil kaum noch Bargeld in Umlauf ist, können viele nicht kaufen, was sie brauchen.
(...)
Eine Flucht aus Mossul in die Türkei kostet 3000 US-Dollar pro Person. Syrische Kurden organisieren und führen sie durch.
(...)
An allen Brücken [über den Tigris] sind Sprengfallen angebracht worden.
(...)
Bis vor kurzem war es sehr schwierig, an Zigaretten zu kommen. Inzwischen ist es viel einfacher und billiger geworden. Zigaretten aller Marken werden für 1500 irakische Dinar (1.25 Franken) verkauft.
(...)
Der «IS» hat neun Gefangene im Stadtteil A-Arabi hingerichtet.
(...)
Die Frage, die sich die meisten hier stellen, lautet: Wer wird in die Stadt eindringen? Was wird mit uns passieren? Dürfen die [schiitischen] Milizen die Stadt betreten? Wer wird sie stoppen, falls sie es versuchen?
Der «IS» hat heute Morgen 23 Gefangene hingerichtet.
(...)
Kaum noch ein Gebäude steht in Mossul. Was die Alliierten übrig gelassen haben, hat der «IS» in die Luft gesprengt.
(...)
Nach der Befreiung Mossuls wird von der Stadt nichts als Schutt und Asche bleiben. Sie liegt jetzt schon in Trümmern.
Was wenn der «IS» sich nicht aus Mossul zurückzieht? Eigentlich kann er das gar nicht. Viele seiner Mitglieder sind Iraker. Nach Syrien zu fliehen, bringt nichts, denn dort wartet die nächste Schlacht. Auch ausserhalb Mossuls und anderswo im Irak können sie nicht untertauchen. Die Türkei und Europa sind weit weg. Deshalb werden sie kämpfen, selbst jene, die sich ergeben wollen, weil sie keine andere Chance haben.
(...)
Es ist klar, dass die Entscheidung zur Befreiung Mossuls fiel, um Hillary Clintons Bewerbung um die US-Präsidentschaft und das Ende von Obamas Amtszeit zu unterstützen.
(...)
Viele glauben, Mossul und Ninawa [das Gouvernement, in dem es liegt] seien gleichbedeutend. Das ist ein grosser Fehler, denn die Bevölkerung Mossuls ist keine Stammesgesellschaft.
(...)
Alle Pläne für die Zeit nach der Befreiung deuten entweder darauf hin, Mossul mehrheitlich schiitisch zu machen oder es den Bewohnern der umliegenden Dörfern zu übergeben und so zu einer Stammesstadt zu machen. Das wird das letzte Bollwerk der Urbanität im Irak vernichten.
Der «IS» hat angefangen, SIM-Karten einzusammeln und droht, jeden zu verhaften, der mit einer erwischt wird.
(...)
In letzter Zeit sind tragbare Raketen aufgetaucht. Der «IS» montiert sie auf Kleinlastern. Neben den Raketen sind 20-Liter-Gefässe angebracht, deren Inhalt unbekannt ist.
(...)
Kinder und Jugendliche stellen die Mehrheit der «IS»-Kämpfer. Sie sind zwischen 15 und 18 Jahren alt.
(...)
Diese Stadt kann ohne ihre Kirchen und Moscheen, ihre schiitischen Schreine und Gebetshäuser der Jesiden nebeneinander nicht überleben. Diese Diversität ist die Quelle ihrer Kraft und jeglicher Versuch, diese Diversität zu verfälschen, wird Katastrophen historischen Ausmasses verursachen, in naher und in ferner Zukunft.
Wir, die zivilisierten Menschen Mossuls, wollen unsere Stadt nach der Befreiung nicht den Stämmen, den Kurden, den schiitischen Milizen oder irgendeiner anderen Gruppierung überlassen, die ausserhalb des Machtbereichs der Zentralregierung in Bagdad steht. Wir glauben auch, dass diese nicht in der Lage sein wird, Mossul zu verwalten. Deshalb schlagen wir vor, die Stadt vorläufig in ein internationales Mandatsgebiet zu verwandeln, unter der gemeinsamen Verwaltung der irakischen und der amerikanischen Regierung.
Im Juni veröffentlichte der Blogger eine Liste mit den Namen lokaler «IS»-Mitglieder:
Wohl nicht zuletzt wegen solcher Aktionen ist er im Visier der Terroristen. Einmal haben sie sich sogar über «Mosul Eye» bei ihm gemeldet. Als ob er sich immer wieder vergegenwärtigen müsse, wie gefährlich er lebt, liest er die Nachricht des «IS» von Zeit zu Zeit wieder, wie er kürzlich in einem Interview verriet:
sehr, gehen unter die Haut.