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«Der Irak ist erledigt»: Kurden stimmen über Unabhängigkeit ab

«Der Irak ist erledigt»: Kurden stimmen über Unabhängigkeit ab

24.09.2017, 11:5124.09.2017, 12:12
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epa06220465 Kurds hold Kurdish flags as they take part part in a rally for the Kurdistan independence referendum campaign at the Franso Hariri stadium in Erbil, Iraq, 22 September 2017. Kurdish leader ...
Kurden-Demo in Erbil.Bild: EPA/EPA

Seit Jahrzehnten träumen die Kurden im Norden des Iraks von der Unabhängigkeit. Jetzt sind sie fest entschlossen, sich vom Rest des Landes abzuspalten. Doch der Widerstand wird immer stärker.

Die Menge wogt und feiert über Stunden. Zehntausende Kurden sind ins Fussballstadion der nordirakischen Stadt Erbil geströmt, kein Platz ist mehr frei. Im Innenraum stehen die Menschen bei fast 40 Grad Körper an Körper, verschwitzt und so dicht, als seien sie eine einzige grosse Masse.

Sie singen, sie tanzen, sie schwenken kurdische Fahnen, Rot-Weiss-Grün, in der Mitte eine Sonne. «Bale, Bale»-Rufe hallen durch das Stadion: «Ja, Ja» zur kurdischen Unabhängigkeit. «Der Irak ist erledigt», brüllt ein Mann. «Er wird nicht mehr benötigt.»

Angst vor Bürgerkrieg ...

Es ist am Freitagnachmittag die letzte Kundgebung, bevor Nordiraks Kurden an diesem Montag in einem Referendum über ihre Unabhängigkeit abstimmen, um sich einen alten Traum zu erfüllen. In ihren Autonomiegebieten geniessen sie zwar grosse Selbstständigkeit, nun aber wollen sie mehr. Die Kurden könnten zwischen Unterordnung und Freiheit wählen, ruft ihr Präsident Massud Barsani der Masse zu: «Wir können nicht länger mit Bagdad leben.»

epa06222150 A hat with Kurdish flag on sale at the old city of Erbil, Kurdistan region in northern Iraq, 23 September 2017. The Kurdistan region is an autonomous region in northern Iraq since 1991, wi ...
Bild: EPA/EPA

Doch der Widerstand gegen die Volksabstimmung der Kurden ist gross. Fast täglich wetterte Iraks Ministerpräsident Haidar al-Abadi, das Referendum sei verfassungswidrig.

Ihn treibt die Angst um, ausgerechnet in seiner Amtszeit könnte der Irak auseinanderbrechen. Ein Anführer der mächtigen Schiitenmilizen, Hadi al-Amiri, warnte sogar, die Volksabstimmung könnte zu einem neuen Bürgerkrieg führen.

... und weiteren Autonomiebestrebungen

Vor allem aber die grossen Nachbarn Türkei und der Iran üben massiven Druck auf die Kurden aus, weil sie befürchten, die Absetzbewegungen ihrer eigenen kurdischen Minderheiten könnten Nahrung erhalten. Um Barsani ein Warnsignal zu geben, begannen türkische Truppen an der Grenze zum Irak mit einem Militärmanöver. Präsident Recep Tayyip Erdogan droht mit Sanktionen, die «keine gewöhnlichen» sein würden.

Selbst die USA, eigentlich ein enger Verbündeter der Kurden, stellen sich gegen das Referendum. Das Weisse Haus kritisierte die Pläne als «provokant und destabilisierend». Washington argumentiert, erst müsse die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Irak besiegt sein, dann könne über eine kurdische Unabhängigkeit gesprochen werden.

Doch dieses Argument will der kurdische Analyst Saro Qadir nicht gelten lassen. «Der Kampf gegen den Terror wird noch Jahre dauern», sagt der Berater von Präsident Barsani. Überhaupt hält er den irakischen Staat, der von der Mehrheit der Schiiten dominiert wird, für gescheitert.

epa06220473 A Kurdish woman takes a selfie during a rally for the Kurdistan independence referendum campaign at the Franso Hariri stadium in Erbil, Iraq, 22 September 2017. Kurdish leaders take the fi ...
Bild: EPA/EPA

Anders als in der Verfassung vorgeschrieben seien nicht alle Gruppen - die arabischen Schiiten und Sunniten genauso wie die Kurden - gleichermassen beteiligt worden. «Deswegen ist es unser Recht, den besten Zeitpunkt für unsere Interessen zu bestimmen.»

Zankapfel Kirkuk

Das Verhältnis zwischen den Kurden und Bagdad ist schon seit langem angespannt. Der Langzeitherrscher Saddam Hussein unterdrückte ihre Rechte und setzte Giftgas gegen sie ein, was sich ins kollektive Gedächtnis der Kurden eingebrannt hat.

Auftrieb bekamen die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen 2014, als die Soldaten der irakischen Armee vor dem Ansturm des IS einfach wegrannten und die Extremisten fast bis in die kurdische Hauptstadt Erbil vormarschiert wären. Immer wieder streiten sich Kurden und Zentralregierung um Öleinnahmen.

Für besonders provokant halten Kritiker Barsanis Entscheidung, auch in Gebieten abstimmen zu lassen, die Erbil und Bagdad gleichermassen beanspruchen. Im Zentrum des Streits steht die Provinz Kirkuk, die zu den ölreichsten des Iraks zählt - ein Reichtum, den die Kurden benötigen, soll ihr Staat wirtschaftlich lebensfähig sein. Eigentlich steht Kirkuk unter Hoheit der Zentralregierung in Bagdad, doch die Kurden nutzten den Kampf gegen den IS, um dort einzurücken.

Die Abstimmung in Kirkuk ist auch deshalb heikel, weil die Stadt multiethnisch ist. Kurden leben hier genauso wie irakische Araber, Turkmenen und andere Minderheiten. Ali Mehdi, Sprecher der Turkmenischen Front, wirft den Kurden vor, die Demografie Kirkuks in den vergangenen Jahren zu ihren Gunsten verändert zu haben. «Sie haben Hunderttausende Kurden nach Kirkuk geholt», sagt er.

Die Kurden halten dagegen, die Stadt gehöre historisch und geografisch zu ihnen, nicht zum arabischen Teil des Iraks. «Dieser Boden hier ist kurdischer Boden», sagt Dilschad Perot Asis, der für Barsanis Partei KDP in Kirkuks Provinzrat sitzt. «Schauen sie auf den Friedhof. Da gibt es nicht ein einziges arabisches Grab.»

«Soll passieren, was passiert»

Es gilt als sicher, dass sich die Kurden in dem Referendum mit grosser Mehrheit für die Unabhängigkeit aussprechen. Vor allem in Kirkuk könnten die Spannungen dann zunehmen, Gewalt inklusive. Die Blicke richten sich insbesondere auf die von Iran kontrollierten schiitischen Milizen, die Teheran als Druckmittel einsetzen könnte.

Die Kurden wollen sich davon nicht beeindrucken lassen. «Wenn sie (die schiitischen Milizen) etwas machen, werden wir ihnen unsere Antwort zeigen», sagt Kamal Kirkuki, Kommandant der kurdischen Peschmerga-Kämpfer an der Front zum IS westlich von Kirkuk. «Wir werden das Referendum abhalten. Es soll passieren, was passiert.» (sda/dpa)

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16 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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BoomBap
24.09.2017 12:38registriert Januar 2016
Hoffen wir es läuft friedlich ab, ohne Gewalt. Nur schon wegen meinem kurdischen Freund aus Duhok. Einen netteren Menschen kenn ich nicht.
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Ruffy
24.09.2017 12:10registriert Januar 2015
Bevölkerungsgruppen, ob ethnisch oder geografisch sollen das Recht haben über ihre Unabhängigkeit zu entscheiden. Staaten wie der Irak haben versagt und erhalten nun die Quittung. Das ist gut so.
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malu 64
24.09.2017 14:20registriert September 2014
Es wird langsam Zeit, dass die Kurden eigenständig werden. Diese grosse Volksgruppe sollte einen Ort haben wo sie ihre Kultur und Eigenständigkeit leben können. Wie immer geht es um Bodenschätze. Jeder will ein Stück vom Kuchen haben.
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