Es hat Tage gedauert, bis das Interview mit Mina Aghajari* zustande kam, denn die Internet- und Telefonverbindung im Iran war sehr schlecht und unterbrochen.
Am Donnerstagmorgen erreichte watson die 33-jährige Iranerin, die aktuell in Teheran lebt, doch noch via Telegram. Sie erzählte, wie es ist, eine Frau im Gottesstaat zu sein und was sie sich von den Menschen in der Schweiz erhofft.
Mina, wie geht es dir?
Als Erstes muss ich loswerden, dass ich absolut nicht damit einverstanden bin, dass in meinem Land täglich Menschen von der Regierung und der Polizei getötet werden. Und dass friedliche Protestaktionen unterdrückt werden.
Wir kommen also ohne Umwege zum Thema: den Protesten im Iran. Worum geht es den Menschen, die auf den Strassen Irans demonstrieren?
Beim aktuellen Protest dreht sich vieles um den Hijab – also das Kopftuch, das Frauen in der islamischen Republik tragen müssen. Aber es geht auch darum, dass alltägliche Dinge teurer werden und die Menschen sich diese nicht mehr leisten können. Viele verdienen hier nur sehr wenig, sind arbeitslos.
Und die Proteste richten sich gegen die Regierung?
Ja. Gegen die Regierung, die sich schamlos an Ressourcen bereichert. Gegen die Regierung, die unsere Umwelt zerstört, da sie dieser keine Bedeutung beimisst. Die Probleme hier sind so vielfältig – ich bräuchte Stunden, um sie alle zu erklären. Die allgemeine Wut der Öffentlichkeit und die vielen Probleme haben die Proteste ausgelöst. Als über den Tod der unschuldigen Mahsa Amini berichtet wurde, war genug.
Und was wollen die Iranerinnen und Iraner mit den Protesten erreichen?
Mit den Protesten wollen wir unter anderem erreichen, dass wir das Recht bekommen, selber zu wählen, was wir anziehen. Wir wollen nicht nackt sein, aber wir wollen keinen Tschador, keine weiten Mäntel und keine Kopftücher mehr tragen müssen.
Geht es wirklich nur um Kleidung?
Die meisten Menschen hier sind mit der Regierung und den religiösen Gesetzen, der islamischen Republik per se überhaupt nicht einverstanden. Wir wollen keine islamischen Gesetze mehr, keine islamische Republik. Wir wollen Demokratie.
Wie sehen denn die religiösen Gesetze in Bezug auf Frauen aus in Iran?
Nach der Revolution von 1978 änderte sich alles in Iran, vor allem die Freiheit und die Rechte der Frauen verschwanden. Wir dürfen nicht tragen, was wir wollen, wir dürfen nicht singen, tanzen und keine Musik spielen. Wir dürfen keinen Sport treiben, wenn Männer anwesend sind und wir dürfen nicht ins Stadion gehen, um Männer beim Sport zuzusehen. Wir müssen uns verschleiern, sonst werden wir von der Polizei bestraft. Einige von uns werden sogar getötet – wie Mahsa Amini.
Wurdest du schon einmal von der Polizei angehalten, weil du gegen eine dieser Regeln verstossen hast?
Ich habe noch nie mit der Sittenpolizei zu tun gehabt. Aber einige Freundinnen und Schülerinnen haben schon schlechte Erfahrung gemacht und mir davon erzählt.
Würden denn eure Ehemänner, Brüder, Väter und Onkel den Frauen überhaupt erlauben, euch zu kleiden, wie ihr wollt?
Natürlich gibt es auch religiöse Familien, deren Werte nicht mit dem übereinstimmen, wofür die Proteste stehen. Aber meine Familie steht hinter der Freiheit. Und wir teilen diesen Wert mit den meisten anderen Familien hier. Etwa 75 Prozent glauben an die Freiheit.
Wenn du auf politischer Eben etwas bestimmen könntest, was würdest du als Erstes ändern?
Wenn ich eine Position in der Politik einnehmen könnte, würde ich viele Dinge ändern. Aber als Erstes würde ich die Grundrechte der Menschen wieder einführen. Denn diese haben wir seit vielen Jahren nicht mehr. Heutzutage haben die Menschen hier kein Recht auf freie Meinungsäusserung und auch kein Recht zu demonstrieren. Uns ist es verwehrt, das Unrecht aus unseren Fenstern über die Dächer der Häuser zu schreien.
Was sind deine Wünsche für die Zukunft?
Ich wünsche mir persönliche Freiheit. Und Freiheit für mein Land und mein Volk, Freiheit in jeder Hinsicht und auch Frieden, Ruhe und Glück. Ich will, dass die ganze Welt unser Land und das unterdrückte iranischen Volk in dieser Sache unterstützt.
* Mina Aghajari hat sich bewusst dazu entschieden, hier mit Klarnamen und Foto aufzutreten.
Ich wünsche den Iranern und vor allem den Frauen viel Kraft und Erfolg bei IHRER Revolution.
Am Ende des Buches folgt die Resignation: Das Volk wird sich nie erheben, weil es das System nicht vorsieht!
Für mich gilt nur der Anfang: Die einzig wirkliche Hoffnung auf einen Umsturz zum besseren hin liegt beim Volk. Und wenn ein Volk genug gelitten hat, wird es sich auch erheben.
Ich drücke den Iranerinnen und Iranern den Daumen, dass ihnen der Umsturz mit möglichst wenig Leid und Gewalt gelingt!