Ganz Italien schaut derzeit nach Riace, einem 2000-Seelen-Dorf inmitten der hügeligen Landschaft von Kalabrien. 20 Jahre lang nahm deren Bürgermeister Domenico Lucano Flüchtlinge auf, gab ihnen Häuser, eine Arbeit, Italienischkurse. Riace half damit nicht nur den Migranten, sondern auch sich selbst. Denn wie so viele Dörfer in Süditalien litt es an der Abwanderung ihrer Bewohner in den Norden. Mit der Ansiedlung der Flüchtlinge fand Bürgermeister Lucano neue Besitzer der verlassenen Häuser, Bepflanzer der zuvor stillgelegten Äcker und neues Leben auf dem verwaisten Dorfplatz.
Jetzt setzte die italienische Regierung der Idylle ein Ende. Anfang Oktober wurde Lucano verhaftet. Dem italienischen Innenminister Matteo Salvini war der Bürgermeister schon lange ein Dorn im Auge. Nun beschuldigt er ihn, die Abfallentsorgung in Riace ohne vorherige Ausschreibung an Migranten vergeben, Scheinehen zwischen Bewohnern seines Dorfes und Flüchtlingen arrangiert und Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet zu haben. Auf Anweisung von Salvinis ausländerfeindlichen Lega ordnete die Regierung an, die aufgenommenen Flüchtlinge von Riace in Sammellager zu bringen.
In den Medien wurde es «das Wunder von Riace», «das Dorf der Hoffnung» oder «Riace, das Vorzeigedorf» genannt. Nun ist der Traum geplatzt. Erst vor Kurzem noch schienen der Zusammenhalt des Dorfes und der eiserne Wille des Bürgermeisters jeglicher Erschütterung trotzen zu können.
Bei einem Besuch in Riace Mitte August war dies deutlich spürbar. Seit einigen Tagen befand sich Bürgermeister Lucano in einem Hungerstreik. Er protestierte dagegen, dass ihm die Provinz Reggio Calabria die Unterstützungsgelder für sein Flüchtlingsprojekt ohne Erklärung gestrichen hatte. Seit zwei Jahren setze ihn die Regierung unter Druck. Seit Salvini im März den Posten des Innenministers übernommen hatte, habe sich für ihn die Situation noch mehr zugespitzt. Das erklärte er einem italienischen Journalisten, der mit Mikrofon, Kamera und Entourage um den Bürgermeister stand.
Etwas abseits des Geschehens sassen jene, um die es im Kern der Sache eigentlich ging: Somalier, Eritreer, Kurden, Palästinenser, Syrer, Afghanen, Malier, Tunesier, Senegalesen. Mit ernsten Gesichtern beobachteten sie «Mimmo», wie sie ihren Helden nannten. Noch gab er sich kämpferisch, doch welche Zukunft blühte ihm? Und was bedeutete das für das Schicksal der Flüchtlinge?
Aus der Taverna «Donna Rosa» drang aufgeregtes Kindergeschrei. Ein dunkelhäutiger Junge schoss die Treppen herunter auf die Strassen, ein anderer stürzte hinter ihm her. Ursprünglich war das Restaurant eines jener Projekte, die aus Lucanos Engagement für die Flüchtlinge hervorging. Migranten bewirteten hier Gäste mit typischen Gerichten ihrer Herkunftsländer. Im Innern des Gebäudes wurden dieser Tage aber keine kurdischen oder eritreischen Speisen gekocht, sondern Flyer geschrieben, mit Medien telefoniert oder Veranstaltungen geplant.
Die zwei Kinder, die sich aus der Taverne heraus unter lautem Gelächter durch die Strassen jagten, rannten nun auf Lucano zu, der vis-à-vis auf einer niedrigen Mauer sass und noch immer mit dem Journalisten sprach. Der eine Junge streckte dem Bürgermeister frech seine Handfläche entgegen und liess sich von ihm ein High-Five geben. Ganz zum Ärgernis seiner Mutter, die ihn in barschem Ton anherrschte und von Lucano wegzog.
Etwas weiter vorne im schmalen Gässchen sassen vier ältere Dorfbewohner im Schatten der Häuser um einen weissen Plastiktisch und spielten Karten. Beim Anblick der Gestalten hätte man denken können, dass dies ein ganz normaler Ort, mit ganz normalen Leuten, irgendwo in Süditalien war.
Obwohl Riace in den vergangenen Jahren zu einem Flüchtlingsdorf wurde, das rund 800 Menschen ein neues Zuhause gab, änderte dies nicht die Gewohnheiten der Bewohner. Die Männer schmetterten beim Ablegen die Karten so laut auf den Tisch, dass jedes Mal ein dumpfer Knall erklang. Dazu tranken sie Wein und schwiegen sich an.
Wenig guten Mutes war der Barista im Café am Dorfplatz. Seit Monaten erhalte er das Geld für die Riace-Euros nicht mehr, sagte er und öffnete seine Kasse. Darin lag ein Stapel bunter Scheine. Diese spezielle Währung war ebenfalls eine Erfindung von Lucano. Zwar erhielten die Flüchtlinge in Riace von der Regierung einen gewissen Geldbetrag. Doch weil sich die Zahlung regelmässig um Monate verzögerte, führte der Bürgermeister ein eigenes Währungssystem ein. Mit den Riace-Euros konnten die Migranten in lokalen Geschäften das Nötigste einkaufen. Sobald die Regierung das Geld überwies, konnten die Ladenbesitzer die künstliche Währung in Euros umtauschen.
Doch weil Salvini die Zahlungen blockierte, zwang das nicht nur Lucano in einen Hungerstreik, sondern brachte auch den örtlichen Barista in Not. «Wir alle stehen hinter Mimmo. Aber so wie es jetzt ist, kann es nicht mehr weiter gehen», sagte er. Als dann jedoch ein Mädchen in die Bar kam und ihm wortlos einen Riace-Euro-Schein entgegenstreckte, zögerte er nicht und reichte eine Packung Chips über die Theke.
Zwar bröckelten die schützenden Mauern rund um die kleine Welt von Riace schon damals. Doch Mitte August bestand bei der Bevölkerung noch Hoffnung, dass sich irgendwie alles zum Guten wenden könnte. Zuletzt bewahrheitete sich dies allerdings nicht. Mit der Verhaftung Lucanos und der Umsiedlung der Migranten zerfiel das Modell Riace, das mancherorts Vorbild einer Migrationspolitik der Zukunft war. Was nun mit den aufs Neue leer stehenden Häusern, der Taverna oder der wieder eröffneten Schule passiert, ist unklar.