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watson zieht Hungerbild aus Madaja zurück

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Das falsche Hungerbild aus Madaja und seine verheerende Wirkung auf die Solidarität mit der syrischen Zivilbevölkerung

11.01.2016, 18:5112.01.2016, 15:59
Kian Ramezani
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Heute Abend sind die sehnlichst erwarteten Hilfsgüter für Tausende vom Hungertod bedrohte Menschen in Madaja eingetroffen.

Das Schicksal der von Rebellen kontrollierten und von Regierungtruppen belagerten Stadt im Westen Syriens bewegt die Welt seit Tagen. Am vergangenen Freitag erklärte die UNO, sie habe von der Regierung in Damaskus freies Geleit nach Madaja zugesichert bekommen. Auch watson berichtete über diesen Hoffnungsschimmer und verwendete eines der von den Agenturen zur Verfügung gestellten Bilder:

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Bild: AP/Local Revolutionary Council in Madaya

Es wurde von der Nachrichtenagentur AP mit der folgenden Legende verbreitet: 

«Dieses undatierte Foto vom Lokalen Revolutionsrat in Madaya, das überprüft worden ist und mit anderen AP-Berichten übereinstimmt, zeigt einen verhungernden Jungen in Madaja, Syrien.»

Wenig später kommentierte watson-User silverback, bei dem Bild handle es sich um eine Fälschung. Die von ihm zitierte Quelle behauptet, dass das Bild aus einem Video stamme, das seit Mai 2015 auf Youtube einsehbar ist. Darin sagt ein Sprecher, die Szene sei in Ost-Ghouta, einem Vorort von Damaskus, aufgenommen worden.

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screenshot via youtube

watson entschied daraufhin, AP auf diese Unstimmigkeiten aufmerksam zu machen. Eine Antwort blieb aus, aber am Samstagabend zog die Nachrichtenagentur das Bild mit der Erklärung zurück, der Ort der Aufnahme könne nicht mit Sicherheit bestimmt werden. In der Folge entfernte auch watson das Bild aus seinen Berichten zu Madaja.

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Bild: AP/Local Revolutionary Council in Madaya

Wie es zu dem Fehler kam, ist unklar (eine Anfrage über Facebook an den «Lokalen Revolutionsrat in Madaya» blieb bislang unbeantwortet) und dürfte angesichts der massiven Propaganda im Syrienkonflikt schwer zu eruieren sein. Die Rebellen werfen der Regierung vor, Madaja zu belagern und systematisch auszuhungern. Regierungsfreundliche Medien bezeichnen das als Desinformation. Die Rebellen würden Hilfslieferungen beschlagnahmen, horten und anschliessend der verzweifelten Zivilbevölkerung zu Wucherpreisen verkaufen, schreibt etwa Murad Gazdiev vom staatlich-russischen Auslandsender RT. Russland ist der wichtigste Verbündete des Assad-Regimes.

Unbestritten – und von der UNO, Ärzte ohne Grenzen und dem IKRK bestätigt – ist die Tatsache, dass in Madaja und in anderen schwer zugänglichen Orten Hunderttausende Menschen auf Hilfslieferungen angwiesen sind, um zu überleben. Nichts anderes zeigt letztlich das oben erwähnte Video, offenbar nicht in Madaja, aber anderswo in Syrien. Nichtsdestotrotz bedauert watson, dieses Bild verwendet zu haben.

Dass die Weltöffentlichkeit angesichts der aktuellen Flüchtlingsthematik und nach Jahren der Abstumpfung überhaupt noch am Schicksal der syrischen Zivilbevölkerung teilnimmt, ist nicht selbstverständlich. Umso verheerender, wenn Zweifel an der Authentizität solcher Bilder auftauchen. Wird es auch noch Hilfslieferungen geben, wenn keiner mehr irgendetwas glaubt?

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25 Kommentare
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silverback
11.01.2016 21:01registriert November 2015
Ich positiv überrascht über die Richtigstellung von watson, es fällt mir inzwischen allerdings schwer an ein versehen von AP zu glauben.
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Beobachter24
11.01.2016 19:38registriert August 2014
... dass sich diese Falsch-Info bereits in viele Hirne eingebrannt hat, lässt sich leider nicht mehr ändern.

Trotzdem: Herzlichen Dank Herr Ramezani! Sie sind ein Lichtblick in dieser recht düsteren, Propaganda geschwängerten Medienwelt.
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Wilhelm Dingo
11.01.2016 19:30registriert Dezember 2014
Hut ab vor Kian Ramezani, darum lese ich ^Watson. Das falsche Bild zeigt eine beängstigende Schludrigkeit im Journalismus, sogar bei zentralen Agenturen wie AP. Und diese ist nicht das erste falsche Bild im Umlauf. Dass die Menschen in vielen Regionen von Syrien extrem leiden und am verhungern sind steht trotz falschem Bild ausser Zweifel, es gibt ja auch noch andere Quellen ausser AP.
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