Hilfe vor Ort
watson und das Schweizerische Rote Kreuz sammeln eine Woche lang Spenden für syrische Flüchtlinge im Libanon. Mach mit!
Fayez Mhammed lacht hilflos, zeigt ins Leere, legt seine Hände wieder auf den Oberschenkeln zusammen. «Was sollen wir schon tun? Wir streiten uns! Wir sitzen rum, schauen uns an und beginnen zu streiten», sagt er und das bittere Lachen erreicht seine Augen nicht. Sie glänzen. Gross, dunkel, traurig.
Fayez sitzt auf Knien auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden seines rund zehn Quadratmeter grossen Wohnzimmers. Wenn es Nacht wird, betten er und 15 weitere Mitglieder der Grossfamilie sich Körper an Körper zum Schlafen darauf. Die Wände des Raumes bestehen aus Plastikplanen. Die Plache am hinteren Ende reicht nicht bis ganz zum Boden. Ein kühler Wind weht durch das Tal direkt in Fayez' Hütte. Er kündigt den Winter an. Bald wird es schneien auf der libanesischen Bekaa-Ebene. Es wird bis zu minus 10 Grad. Wir sind auf 1000 Meter über dem Meer.
«Die ersten beiden Winter haben wir von der Flüchtlings-Registrierungsstelle einen Schutz für das Dach bekommen. Dieses Jahr war noch niemand hier», sagt Fayez. Der 37-Jährige hat die Holz-Behausung mit behelfsmässiger Küche und zwei Zimmern selber gebaut, das Dach mit Pneus befestigt. Fayez' Eltern verkaufen stückchenweise sein Land in Syrien. Er braucht Geld. 180 Dollar monatlich alleine für die Miete. Arbeit gibt es im Winter kaum, im Sommer kann er bei einem Bauern aushelfen – schwarz und für nicht mal 1.50 Franken pro Stunde. «Wir werden den ganzen Winter Schnee vom Dach schaufeln. Wenigstens etwas zu tun.»
Und: «Hauptsache weit weg von den Bomben.»
Fayez Mhammeds 6-jährige Tochter hätte gern ein paar Spielsachen. Sie sitzt neben ihm auf dem Teppich, stützt den Ellbogen auf, legt den Kopf in die Hand, starrt ins Leere. «Meine Kinder gehen nicht zur Schule», sagt Fayez. «Und auf der Strasse lernen sie bloss Dinge, die nicht gut für sie sind, sich prügeln oder stehlen. Ich will sie nicht auf die Strasse lassen.» Draussen im Hof jagen sich die anderen. Auf dem öden Platz wirbelt der Wind Abfall in die Luft.
Aber: «Hauptsache weit weg von den Bomben.»
Die Familie Mhammed ist eine von Tausenden, die seit 2011 vor dem Krieg in Syrien in die libanesische Bekaa-Ebene geflüchtet sind. Die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR zählt in dieser Region über 500'000 Flüchtlinge. In ganz Libanon sind 1,2 Millionen Flüchtlinge registriert, inoffiziellen Schätzungen zufolge sind es fast 2 Millionen. Jeder vierte Einwohner im Land ist Flüchtling. Womit die Rechte in Europa zuweilen ihr politisches Süppchen kocht, ist hier Realität: Das Land platzt vor Flüchtlingen. Vor Syrern, aber auch Palästinensern.
Im Gegensatz zu europäischen Ländern hat der Libanon keine handlungsfähige Regierung. Seit mehr als einem Jahr kann sie sich nicht auf einen neuen Präsidenten einigen, die als korrupt verschrienen Parlamentarier haben sich die Legislaturperiode selbst verlängert. Das Land, eingeklemmt zwischen Mittelmeer und Krieg, lässt die Flüchtlinge einreisen und Zelte bauen. Weitere Hilfe gibt es nicht. In einem Land, das mit sich selbst genug zu tun hat, sind auch die Flüchtlinge auf sich allein gestellt.
Die Syrer hier halten sich mit Aushilfsjobs bei Bauern über Wasser, zapfen illegal Strom von den bestehenden Leitungen, mieten sich in den Garagen der Libanesen ein oder zahlen den Besitzern eine Zeche, wenn sie am Rand eines Feldes eine Hütte aufbauen dürfen. So entstanden rund 655 inoffizielle Flüchtlingscamps. Die meisten erhalten Hilfe von einer der im Tal aktiven NGOs, 53 an der Zahl. Auch das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) ist hier präsent. Ab 2016 will das SRK im neuen Cashcard-Projekt 500 Familien mit monatlichem Bargeld unterstützen. Schon länger verteilt das SRK zusammen mit dem Libanesischen Roten Kreuz Nahrungspakete an die Bedürftigsten unter den Flüchtlingen.
Zu ihnen gehört Aisha. Die 47-Jährige wohnt in Camp 026. Sie lacht laut und ständig, hastet zu ihrem Zelt, gibt unterwegs ein paar Kindern lautstarke Anweisungen, präsentiert das neue Plumpsklo, das eine NGO hingestellt hat, erläutert den Inhalt ihres Nahrungspakets und bricht plötzlich in Tränen aus.
Auslöser war die Frage nach ihrem Leben in Syrien, ihrem Hof in Aleppo, ihrem Land, ihren Tieren. «Ich bin nicht glücklich hier», sagt Aisha und wischt sich schnell übers Gesicht. Und während die Feuchtigkeit langsam durch den mit Teppichen ausgelegten Zeltboden in unsere Socken einzieht, erzählt sie von ihrem kranken Mann, vom Geld, das nicht für die Miete reicht, von der Angst vor dem Landbesitzer, dem nicht vorhandenen Ofen, den vielen Schulden, dem kommenden Winter und ihren acht Kindern. «Gott wird sich um uns kümmern, Inschallah.»
In der Bekaa-Ebene leben die Ärmsten der Armen. 70 Prozent der syrischen Flüchtlingshaushalte hier liegen weit unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Die Menschen kaufen Essen auf Kredit und müssen ihre Kinder betteln lassen. In den nahen Grenzdörfern, vor allem auch im Norden, übersteigt die Zahl der Flüchtlinge 50 Prozent der Einwohner. In jeder Bauruine, in jeder Garage, in jedem Kämmerchen leben Menschen.
Vor diesem Hintergrund hat der Libanon Anfang 2015 die Grenzen geschlossen. Der Grenzwächter bei Al Masnaa, im Grenzort Majdal Anjar will das zwar nicht so recht bestätigen: «Die Grenzen sind offen», sagt er, «Syrer mit Visa, hoher Ausbildung, Bürgschaft eines Libanesen oder Hotelreservation dürfen einreisen.» Das trifft auf einen Bruchteil der Syrer zu. Diejenigen, die hier gestrandet sind, können ihre zurückgelassenen Verwandten nicht mehr besuchen. Dabei liegt Damaskus nur 50 Kilometer entfernt.
«Ich telefoniere mit meinen Geschwistern und mein Herz weint. Das ist das Schwierigste für mich, dass ich sie nicht sehen kann», sagt eine Syrerin, die mit ihrer Familie in einer behelfsmässigen Behausung in Majdal Anjar wohnt. «Wir sitzen hier wie Gefangene fest.»
Ihre Schwiegermutter sitzt neben ihr am Boden und rührt auf einem Gaskocher Milchreis an. Der Strom in den zwei Räumen im Erdgeschoss fällt immer wieder aus. Warum sie in den Libanon gekommen sind? «Wir hätten mit Problemen leben können, aber nicht mit Bomben», sagt die Frau. Ihre Namen will die 10-köpfige Familie nicht nennen.
In Damaskus gehörte ihr eines der bekanntesten Brautmodegeschäfte der Stadt. «Wir hatten ein wunderschönes Leben. Es hat uns an nichts gefehlt. Meine Kinder gingen in die beste Schule», sagt sie. «Jetzt ist es halt so, wie es ist.» Das 12-stöckige Haus in Damaskus gibt es nicht mehr, die Söhne arbeiten schwarz, drei schulpflichtige Kinder tun nichts. Wer sich als Flüchtling registrieren lässt, verliert das Recht auf Arbeit. «Ich würde lieber heute als morgen zurück nach Syrien», sagt die Mutter, «wir sitzen hier und warten.»
Von diesem unterträglichen Warten reden hier viele. Warten, bis der Winter vorbei ist. Warten, bis das Geld ausgeht. Warten bis das Dach kommt. Warten, bis jemand Arbeit hat. Warten, bis ein Schlepper hält, was er verspricht.
Warten, bis der Himmel über Syrien aufhört, Bomben zu spucken.