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Wie ein Amerikaner wegen eines gestohlenen Handys in China zum Star wurde – und einen Freund fürs Leben fand

Wie ein Amerikaner wegen eines gestohlenen Handys in China zum Star wurde – und einen Freund fürs Leben fand

Eine Geschichte, wie sie nur das 21. Jahrhundert schreiben kann: Sie fängt amüsant an, geht ziemlich schräg weiter und ist schliesslich an Verrücktheit kaum noch zu überbieten.
02.04.2015, 22:3903.04.2015, 14:12
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Täglich im Netz unterwegs zu sein, kann ganz schön aufs Gemüt schlagen: Schimpf und Schande in News-Kommentarspalten, Cybermobbing auf Instagram, Katzen-Overkill. Doch dann, hin und wieder, ereignet sich eine Geschichte, so verrückt und herzerwärmend, dass sie alles wieder wett macht: So wie die Geschichte des Buzzfeed-Redaktors Matt Stopera und einem Chinesen, der gerne Selfies mit Orangenbäumen macht.

Alles beginnt im Februar 2014, als Matts Smartphone in einer Bar in New York gestohlen wird. Ein Jahr später tauchen auf seinem neuen Handy 20 Bilder von einem Asiaten mit einem Orangenbaum auf.

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Bild: Buzzfeed

Offenbar ist der Cloud-Dienst des gestohlenen Handys noch aktiv: Ein Monat lang tauchten immer wieder neue Fotos auf. Ein Freund macht Matt darauf aufmerksam, dass die meisten gestohlenen Handys in China landen – wohl auch in diesem Fall.

Matt lässt sein altes Smartphone sperren und schreibt für Buzzfeed einen Artikel darüber. Das hätte das Ende der Geschichte sein können. Doch sie hat noch nicht einmal richtig angefangen.

Wenige Stunden nach der Veröffentlichung des Artikels erhält Matt Tweets von Leuten aus China. Die Story sei übersetzt und auf Weibo, dem chinesischen Twitter, veröffentlicht worden – wo sie gerade viral gehe. Auf den chinesischen sozialen Medien suche man jetzt nach dem Orangenbaummann.

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Screenshot: Twitter

Matt eröffnet einen Account auf Weibo. Nach einem Tag hat er 50'000 Follower. Nach einer Woche sind es mehr als 100'000.

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Screenshot: Weibo

Wenige Stunden später ist er gefunden, der Orangenmann, von dessen Namen keine englische oder deutsche Schreibweise existiert. Auf Weibo erhält er den Übernamen «Bruder Orange». In der chinesischen Kultur ist Bruder ein respektvoller Titel, ein wirklich guter Freund.

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Screenshot: Twitter

Matt und Bruder Orange fangen an, auf Weibo mittels Übersetzungsprogramm zu kommunizieren. Nach mehreren Wochen lädt Bruder Orange seinen neuen Internetfreund nach China ein. Matt akzeptiert.

Matt bespielt seinen Weibo-Account aktiv, fängt an, Videos hochzuladen, und wird mehr und mehr zum Internet-Star in China. In Tausenden von Nachrichten nennen sie ihn liebevoll «Doubi», was wörtlich übersetzt «Herr Bohne» heisst. 

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Doubi und Bruder Orange tauschen täglich Nachrichten aus – vor den Augen ihrer Fans in der virtuellen Welt.

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Screenshot: Weibo

Am 18. März ist es soweit: Matt reist nach China. Auf einem Inlandflug wird er zum ersten Mal von einem Fan erkannt. Eine Frau tippt ihm auf die Schulter und gibt ihm einen Brief. «Ich schaue dich fast jeden Tag auf Weibo an, ich liebe deine Videos, sie sind so lustig», steht darin.

Glücklich über die Begegnung steigt Matt in Shantou aus dem Flugzeug, nichts ahnend, was ihn erwartet.

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Bild: Weibo

Eine Meute von Fans, Journalisten – und Bruder Orange! Was für eine Überraschung, denn gemäss Plan hätte ihn sein Internet-Buddy erst später treffen sollen. «Jetzt weiss ich endlich, wie es sich für Kim Kardashian anfühlt, den Flughafen in Los Angeles zu verlassen», schreibt Matt.

«Jetzt weiss ich endlich, wie es sich für Kim Kardashian anfühlt, den Flughafen in Los Angeles zu verlassen.»

Unterwegs nach Meizhou, dem 4,5-Millionen-«Städtchen», wo Bruder Orange wohnt, gibt dieser Matt sein Handy zurück. Der Chinese erzählt, dass er es von seinem Cousin geschenkt bekommen habe. Darauf seien übrigens auch Bilder von Matt aufgetaucht, die Bruder Orange immer wieder gelöscht habe. Die beiden kommunizieren mit Hilfe von zwei Übersetzern.

Am nächsten Morgen beginnt die China-Tour: Die beiden steigen in ein Auto, auf dem das Gesicht von Bruder Orange prangt. Dieser hat sein Restaurant «Bruder Orange» genannt, nachdem er zur Internetberühmtheit wurde.

Vor dem Restaurant eine Szene, an die sich die beiden bald gewöhnen werden.

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Die beiden pflanzen einen Orangenbaum als Zeichen der chinesisch-amerikanischen Freundschaft. Nach dem Mittagessen gibt's ein Selfie vor DEM Orangenbaum, mit dem alles begann.

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Bild: Qingqing Chen/BuzzFeed

Es folgt ein Termin nach dem anderen. «Ich fühle mich wie ein Politiker, der mit seinem Presseteam bei den örtlichen Geschäften die Runde macht», schreibt Matt.

Und: Selfies. Überall Selfies.

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Bild: Weibo

An einer Pressekonferenz am nächsten Tag trifft Matt einen Fan im Rollstuhl. Sie würde ihr Haus kaum verlassen, erzählt sie, doch sie wollte ihn unbedingt sehen. Sie bittet ihn, zu tanzen. 

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Gif: Wechat

Nach der Konferenz findet Matt heraus, dass nun auch sein Gesicht auf dem Auto zu sehen ist.

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Bild: Qingqing Chen/BuzzFeed

So geht es die nächsten Tage weiter: Ein Termin jagt den nächsten, überall werden Matt und Bruder Orange freudig empfangen.

«Chinesen öffnen sich normalerweise nicht einfach so. Ich gehöre jetzt zur Familie. Wir sind Brüder.»

Dabei kommen sich die beiden näher. Waren die Interaktionen anfangs noch etwas unbeholfen, wird der Umgang lockerer, es entsteht inmitten der Verrücktheit eine Vertrautheit, und die beiden entwickeln Insider-Witze und -Posen. 

Bruder Orange nimmt Matt fernab der Kameras mit zu seinen Kinderspielplätzen, zeigt ihm die örtlichen Tempel und stellt ihm seine Frau und seine vier Kinder vor. «Chinesen öffnen sich normalerweise nicht einfach so. Ich gehöre jetzt zur Familie. Wir sind Brüder.»

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Bild: Weibo

In China ist man überzeugt, dass die Begegnung zwischen Matt und Bruder Orange vorbestimmt war – es ist einer der Hauptgründe für den entstehenden Kult um die beiden. Und auch Matt wird zum Gläubigen: «Das ist mehr als nur eine Reihe von verrückten Zufällen, die unser Leben verändert haben. Es ist Schicksal.»

Dann ist Tag sieben da, der Tag des Abschieds. Matts Flug nach Beijing steht an. Die beiden sind mittlerweile schier unzertrennlich. Und tatsächlich geht die Geschichte in die Verlängerung: Bruder Orange entscheidet sich im letzten Moment, ein Ticket zu kaufen. Im Flughafen drehen die beiden ein Musikvideo.

Video: Youtube/Mattstopera
«Das ist mehr als nur eine Reihe von verrückten Zufällen, die unser Leben verändert haben. Es ist Schicksal.»

Bruder Orange ist zum ersten Mal in Beijing. Mit Matt besucht er den Platz des Himmlischen Friedens, eine grosse Ehre für Chinesen. 

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Bild: Qingqing Chen/BuzzFeed

Dann, nach neun Tagen, ist es definitiv Zeit, Abschied zu nehmen. Die Übersetzer sind schon weg, aber die beiden verstehen sich auch ohne Worte. 

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Bild: AB/Buzzfeed

Matt schreibt: «In diesem Moment musste ich an die Grenzen denken, die wir niedergerissen hatten. Es ist 2015 und Computer haben alles verändert. Sprachbarrieren gibt es nicht mehr. Wir haben uns mit Übersetzungs-Apps unterhalten. Es gibt eine App für alles. Alles ist möglich. Danke, Steve Jobs.»

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Bild: Ab/Buzzfeed

Nach einem tränenreichen Abschied kehrte Matt schliesslich nach Hause zurück. Doch er ist überzeugt, dass es bald zum Wiedersehen kommt. Als nächstes soll ihn sein neuer Bruder in den USA besuchen. Sein Visa-Gesuch hat er schon eingereicht. (rey)

(Die ganze Geschichte mit allen Details und noch viel mehr Bildern findest du auf Buzzfeed. Um auf dem neusten Stand zu bleiben, folge Matt Stopera auf Twitter.)

In Arbeit ist auch ein Dokumentarfilm:

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16 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Harold
03.04.2015 07:51registriert November 2014
Endlich wieder mal eine Story die nicht auch durch den Propagandajournalismus von 20min und Blick abgedeckt wird. Detailliert geschrieben, top illustriert, coole Story! Deswegen lese ich Watson!
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