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Der Fotograf hinter dem phänomenalen «Humans of New York»-Blog kommt nach Europa – um Flüchtlinge zu porträtieren

Der Fotograf hinter dem phänomenalen «Humans of New York»-Blog kommt nach Europa – um Flüchtlinge zu porträtieren

28.09.2015, 20:5028.09.2015, 20:55
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Brandon Stanton hat ein Händchen für die Geschichten des Alltags. Auf seiner Facebook-Seite «Humans of New York» porträtiert er Grossstädter und entlockt ihnen intime Details aus ihrem Leben – mit gigantischem Erfolg: Die 2010 gestartete Seite hat bereits über 15 Millionen Likes auf Facebook, auch Hillary Clinton und Barack Obama haben die Bilder schon kommentiert.

Wie er nun angekündigt hat, ist Stanton zehn Tage lang in Europa unterwegs, um die Storys von Flüchtlingen und Helfern zu erzählen. «Als Ganzes stellen diese Menschen eine der grössten Völkerwanderungen der modernen Geschichte dar», schreibt der Fotograf, «aber ihre Geschichten sind einmalige Tragödien.»

Den Anfang macht die unglaubliche Story des syrischen Kurden Muhammad. Muhammad arbeitete 2014 auf einer früheren Reise als Übersetzer Stantons. Mit 50 Dollar in der Tasche flüchtete er in den Irak, wo er jeden Tag 18 Stunden arbeitete, bis er 13'000 Dollar für eine Reise nach Europa zusammenhatte. Sein Leben fand eine dramatische Fortsetzung.

«Ich kontaktierte einen Schmuggler und machte mich auf den Weg nach Istanbul. Kurz vor meiner Abreise nach Europa rief meine Schwester an. Sie erzählte, dass Vater von der Polizei heftig verprügelt worden war, und wenn ich nicht 5000 Euro für eine Operation schicken würde, würde er sterben. Ich hatte keine Wahl. Zwei Wochen später hatte sie noch schlimmere Neuigkeiten: Mein Bruder wurde vom IS getötet, als er auf einem Ölfeld gearbeitet hat. [...] Meine jüngste Schwester fand seinen Kopf. Das war vor einem Jahr. Sie hat bis heute kein Wort gesprochen.»

Muhammad gab den Rest seines Geldes einem Schlepper, damit seine Schwestern in den Irak flüchten konnten. Mit 1000 Euro war er in der Türkei gestrandet. Seinem Vater erzählte er, das Geld für die Operation sei von einem Freund, und Muhammad selbst habe es nach Europa geschafft, wo er in Sicherheit sei.

«Zum ersten mal überhaupt log ich meinen Vater an. Ich wollte nicht, dass er sich wegen der Operation schuldig fühlt.»

Mit Hilfe eines Schleppers wollte Muhammad nach Griechenland gelangen. Er vertraute dem Mann – was sich aus Fehler herausstellte.

«Das Boot war aus Plastik und nur drei Meter lang. Wir waren sieben Leute, dreizehn weitere ergriff im letzten Moment die Panik. Der Schlepper erzählte uns, dass er uns zu einer Insel bringen würde, doch nach wenigen hundert Metern sprang er vom Boot und schwamm ans Ufer. Es war komplett schwarz, wir konnten nichts sehen, kein Land, keine Lichter, nur den Ozean. Die Wellen schwappten aufs Boot. Nach dreissig Minuten gab der Motor den Geist auf. Ich wusste, wir würden alle sterben. Die Frauen weinten, weil sie nicht schwimmen können. Ich log und sagte, ich könne mit drei Menschen auf meinem Rücken schwimmen. Es regnete und das Boot drehte sich im Kreis. Irgendwann gelang es einem Mann, den Motor wieder zum laufen zu bringen. Ich weiss nicht, wie wir das Ufer erreichten. Aber ich weiss noch, wie ich alle Erde, die ich fand, küsste. Ich hasse das Meer. Ich hasse es so sehr, ich mag nicht darin schwimmen, ich mag es nicht ansehen. Ich hasse alles daran.»

Auf der griechischen Insel Samothrace wurden die Flüchtlinge von der Polizei in ein Gefängnis gesteckt, wo sie beschimpft wurden und drei Tage lang kein Wasser und kein Essen bekamen. Nach drei Tagen brachte man sie schliesslich auf einem Boot ans Festland.

«Wir gingen zu Fuss nach Norden, drei Wochen lang. Ich ass nichts als Blätter, wie ein Tier. Wir tranken von schmutzigen Flüssen. Meine Beine waren so geschwollen, dass ich meine Schuhe ausziehen musste. Als wir die Grenze erreichten, fragte uns ein albanischer Polizist, ob wir Flüchtlinge seien. Er wolle uns helfen. Wir sollen im Wald bis in die Nacht auf ihn warten. Ich traute dem Mann nicht, aber ich war zu müde, um zu fliehen. Der Mann kam beim Einbruch der Nacht und lud uns in seinen Wagen. Er brachte uns zu seinem Haus, wo wir eine Woche bleiben durften. Er kaufte uns neue Kleider. Er gab uns jede Nacht zu essen. Er erzählte mir: ‹Schämt euch nicht. Ich habe auch einen Krieg überstanden. Ihr seid jetzt meine Familie und das ist auch euer Haus.›»

Nach einem Monat kam Muhammad in Österreich an, wo ihn ein Mann namens Fritz Hummel aufnahm, der sich wie ein Vater um ihn kümmerte.

«Von Anfang an war ich entschlossen, die Sprache zu lernen. Ich übte 17 Stunden am Tag Deutsch. Ich las Kinderbücher. Ich sah fern. Ich versuchte, so viele Österreicher wie möglich kennenzulernen. Nach sieben Monaten hatte ich einen Termin beim Richter, der über meinen Status entscheiden sollte. Ich beherrschte die Sprache so gut, dass ich ihn fragte, ob wir das Gespräch in Deutsch führen könnten. Er konnte es nicht glauben. Er war so beeindruckt, dass er nur zehn Minuten mit mir sprach. Dann zeigte er auf meine syrische ID und sagte: ‹Muhammad, du wirst das nie wieder brauchen. Du bist jetzt Österreicher.›»

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Flüchtlinge haben Gesichter

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Flüchtlinge haben Gesichter
In Europa sind die Flüchtlinge immer wieder Gesprächsthema. Ein wirkliches Gesicht von Flüchtlingen kennen jedoch die wenigsten.
quelle: getty images europe / dan kitwood
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