Die jungen Männer unterbrechen für einen Moment ihr Kartenspiel. Demir Celik (58) ist an ihren Tisch getreten und setzt zu einer Rede an. Der ehemalige Abgeordnete der türkisch-kurdischen Partei HDP legt seinen Landsleuten nahe, seinen Parteikollegen und Erdogan-Herausforderer Selahattin Demirtas zu wählen. Dann geht Celik weiter zur nächsten Bar an der Bühlwiesenstrasse in Zürich-Oerlikon. Hier in dieser von Einwanderer geprägten Strasse, reihen sich Shisha-Bars an Cafés.
Nur wenige hundert Meter entfernt können die in der Schweiz lebenden Türken ab heute Parlament und Regierung in Ankara wählen. Weil mit einem grossen Andrang gerechnet wird, hat das türkische Generalkonsulat in Oerlikon eine Messe-Halle gemietet.
Demir Celik hofft, dass möglichst viele Schweiz-Türken seine HDP wählen. Dafür tourte er durch die Bühlwiesenstrasse und durch die ganze Schweiz. Einst sass er selbst im Parlament in Ankara, heute ist er Vorsitzender des Demokratischen Kongresses der Völker Europas HDK, einer Art Auslandsorganisation der HDP.
Auf den Flyern, die Celik und seine Mitstreiter verteilten, stehen eine genaue Wahlanleitung und die Adressen der Wahllokale. Neben der Messe Oerlikon können Schweizer Türken auch im Generalkonsulat in Genf und in der Botschaft in Bern wählen. Die HDP will ihre Leute in Fahrgemeinschaften und Bussen an die Urnen bringen. So tun es auch einige andere Parteien.
Rund 96'000 abstimmungsberechtigte Türken leben in der Schweiz. Angesichts der über 55 Millionen, die am 24. Juni aufgerufen sind, Parlament und Präsidenten zu wählen, ist das eine vernachlässigbare Zahl. Und dennoch geht es für die Unterstützer der linken HDP, die ihre Wurzeln im Kurdengebiet, aber auch Anhänger in den Städten hat, um viel.
Zum einen zählt jede Stimme, wenn die HDP die Zehnprozent-Hürde knacken will. Bekommt eine Partei weniger, darf sie nicht ins Parlament. Bei den letzten Wahlen im November 2015 gelang der HDP das nur hauchdünn mit 10.8 Prozent der Stimmen.
Es geht aber auch um die Symbolik. Denn in der Schweiz ist die HDP derart stark, dass sie mehr Stimmen erhält als die Partei des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Es wäre nicht das erste Mal, dass die türkische Opposition Erdogan von der Schweiz aus demütigen würde.
Die Wahlen, die in der Türkei selbst erst am Sonntag, den 24. Juni, in der Schweiz aber schon in den nächsten fünf Tagen stattfinden, sind die ersten seit der Verfassungsreform, für die sich die Türken im April des letzten Jahres knapp ausgesprochen haben.
In Ländern wie Deutschland oder Österreich folgten die Türken stramm der Empfehlung ihres Präsidenten. Die in der Schweiz lebenden Türken verwarfen die Einführung eines Präsidialsystems hingegen deutlich, mit 62 Prozent der Stimmen.
Die Opposition der HDP hofft nun, dass sie Erdogan wieder eine symbolische Niederlage beifügen kann. Deshalb die Flyer, die Reden in Shisha-Bars und die Busse zu den Urnen. Doch Erdogans islamistische AKP ist nicht untätig. Auch sie kann jede Stimme brauchen im Kampf um eine Regierungsmehrheit.
Der Präsident hat sich kurz vor den Wahlen in einem Brief an viele Türken in der Schweiz gewandt. Darin dankt er zunächst den Auslandstürken und verlangt Anerkennung: «Ihr seht am besten, wie weit die Türkei in Sachen Demokratie gekommen ist.» Er rühmt sich zudem, «Tausende Lehrer und Religionsvertreter im Ausland damit beauftragt» zu haben, türkischen Kindern ihre Muttersprache, ihre Religion und ihre Kultur zu lehren.
Schliesslicht ruft er die Auslandstürken dazu auf, zur Wahl zu gehen. Nur wenig verklausuliert bittet er sie um eine Stimme für sich. Er verwendet den gleichen Slogan, der auch auf seinen Wahlkampfflyern steht: «Zeit für eine gemeinsame starke Einheit. Zeit für die Türkei!»
Auch Erdogan-Gegner erhielten den Brief. Etwa der ehemalige Basler Grossrat Bülent Pekerman. Er regt sich über die Post aus der AKP-Zentrale auf und fragt sich: «Woher hat die AKP meine Adresse? Hat das Konsulat sie weitergegeben?»
Das türkische Generalkonsulat in Zürich liegt in einem Wohnquartier unweit von Uni und ETH. Die Rollläden sind auch tagsüber heruntergelassen, vor dem Haupteingang stehen Polizisten Wache und Kameras filmen jeden, der sich dem Haus nähert. Im Innern direkt hinter dem Metalldetektor steht eine Büste von Mustafa Kemal, dem Staatsgründer, der immer mit dem Zusatz Atatürk (Vater der Türken) genannt wird.
Seit rund einem Jahr ist Asiye Nurcan Ipekçi Generalkonsulin in Zürich und damit für die meisten der rund 100'000 Türken in der Schweiz zuständig. Sie kennt Erdogans Brief, beteuert aber, keine Adressen weitergegeben zu haben: «Ohne Einwilligung der Betroffenen geben wir keine Daten weiter.» Sie räumt ein, dass andere türkische Behörden allenfalls auf Adressdaten Zugriff hätten. Wer im Ausland wählen will, muss sich in der Türkei als Auslandtürke registrieren und seinen Wohnsitz angeben.
Der Brief, den der Basler Grünliberale Pekerman bekam, wurde von der österreichischen Post versandt. In Österreich sorgte der Brief für viel Empörung – vor allem die Passage, in der Erdogan von den entsandten Lehrern und Religionsgelehrten schwärmt. Kürzlich schloss das Nachbarland Moscheen, die aus der Türkei unterstützt werden und wies Imame aus.
Die Schweiz ist liberaler, auch was den Wahlkampf angeht. Während Deutschland und Österreich ein Verbot von Veranstaltungen mit türkischen Politikern erliessen, wären sie in der Schweiz legal. Gemäss Ipekçi gibt es auch von der Botschaft keine Empfehlung, auf Wahlkampf zu verzichten. «Da mischen wir uns nicht ein», sagt sie.
Obwohl es rechtlich also kaum Hürden gibt, läuft die Mobilisierung der Türken vor allem innerhalb der eigenen Vereine und Treffpunkte ab. So besuchte etwa die AKP-Politikerin Lütfiye Ilksen Ceritoglu auf Einladung der türkischsprachigen Zeitung «Post» ein Fastenbrechen und verteilte im engen Rahmen gemäss «Sonntagsblick» in Basel Erdogan-Flyer.
Der Wahlkampf findet in der Schweiz vor allem als Predigt zu den bereits Bekehrten statt. So zogen Demir Celik und seine HDP-Mitstreiter denn auch am türkischen Reisebüro in Oerlikon vorbei. Im Inhaber vermuteten sie einen strammen Erdogan-Anhänger. (aargauerzeitung.ch)