Wladimir Putin liebt den grossen Auftritt. Am 11. Dezember 2017 traf der russische Präsident zu einem Überraschungsbesuch auf dem Luftwaffenstützpunkt Hameimim in der westsyrischen Provinz Latakia ein. Vor Soldaten erklärte er sich zum Sieger im Krieg gegen die «Terroristen» in Syrien und kündigte den Abzug eines Grossteils der russischen Truppen an.
Zweieinhalb Monate später sieht es so aus, als ob Putins Auftritt eine Art «Bush-Moment» gewesen wäre. Er weckte unweigerlich Erinnerungen an die «Mission Accomplished»-Rede, in der US-Präsident George W. Bush am 1. Mai 2003 an Bord eines Flugzeugträgers das Ende der Hauptkampfhandlungen im Irak ausgerufen hatte.
In Wirklichkeit versackten die Amerikaner danach erst recht im irakischen Sumpf. Ähnliches droht nun den Russen in Syrien. Seit Jahresbeginn hat sich die Lage in dem vom Bürgerkrieg geschundenen Land nicht etwa beruhigt. Im bald achten Kriegsjahr wird Syrien im Gegenteil zunehmend zum Tummelplatz regionaler und globaler Mächte und damit zu einer realen Gefahr für die Welt.
Ein wesentlicher Grund ist die faktische Niederlage der Terrormiliz «Islamischer Staat». Nach der Vertreibung aus seinen Hochburgen Rakka und Deir Ezzor ist ihr «Kalifat» auf wenige Gebiete vor allen an der Grenze zum Irak geschrumpft. Der Niedergang des «IS» erweise sich jedoch als «mindestens so destabilisierend wie sein ursprünglicher Aufstieg», schreibt die «Financial Times».
Mit der Terrortruppe ist der gemeinsame Feind weg. Nun gehen die Parteien der Anti-«IS»-Koalition aufeinander los und versuchen, rücksichtslos ihre Interessen durchzusetzen. Damit wird Syrien endgültig zu einem Pulverfass, aus dem ein «regionaler Flächenbrand» entstehen könnte, wie die «Financial Times» warnt. Das sind die wichtigsten Konflikte:
Baschar Assad sieht sich neben Wladimir Putin als grosser Sieger. Er hat geschworen, jeden Zentimeter syrischen Bodens zurückzuerobern. In Wirklichkeit ist er sieben Jahre nach Kriegsbeginn so stark geschwächt, dass er ohne Hilfe aus Moskau und Teheran nicht überleben könnte. Umso heftiger bekämpft Assad die verbliebenen Aufständischen, die er als Terroristen bezeichnet. Was das bedeutet, erlebt man derzeit in Ost-Ghuta östlich von Damaskus.
Die Region wird seit 2013 von Regierungstruppen belagert. Nun will Assad mit Unterstützung der Russen vollendete Tatsachen schaffen. Bei Luftangriffen sollen mehrere hundert Zivilisten ums Leben gekommen sein. Rund 400'000 Menschen leben im von islamistischen Rebellen kontrollierten Ost-Ghuta. Auf Anordnung von Wladimir Putin trat am Dienstag eine mehrstündige Waffenruhe in Kraft. Auch das zeigt, wer in Syrien das Sagen hat.
Am 20. Januar liess der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Armee in die Region Afrin im Nordwesten Syriens einmarschieren, die von der Kurdenmiliz YPG kontrolliert wird. Ankara betrachtet sie als Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terrororganisation. Offiziell will die Türkei mit ihrer Intervention in Afrin eine Pufferzone an der Grenze errichten.
In Wirklichkeit fürchtet Erdogan die Errichtung eines Kurdenstaats im Nachbarland. Denn die YPG hat in den von ihr beherrschten Teilen Syriens – darunter praktisch das gesamte Gebiet östlich des Euphrat – die quasi-autonome Region Rojava gegründet. Sie ist «vergleichsweise freiheitlich, demokratisch und gut organisiert», wie der Historiker Hans-Lukas Kieser im watson-Interview ausführte.
Der türkische Kampf gegen die YPG könnte im Extremfall zu einem bislang undenkbaren Szenario führen: Einen bewaffneten Konflikt zwischen zwei NATO-Ländern. Denn die Kurdenmiliz steht quasi unter dem Schutz der USA. Sie bildet das Rückgrat der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die mit Unterstützung der US-Luftwaffe den Bodenkrieg gegen den «IS» geführt haben.
Die USA sind mit mehreren tausend Soldaten in Syrien präsent. Daran dürfte sich so schnell nichts ändern, obwohl die Regierung von US-Präsident Donald Trump weder über eine militärische noch eine politische Strategie verfügt. Türkische Regierungsvertreter haben sich in letzter Zeit heftig über die US-Unterstützung für die YPG beklagt. Eine Konfrontation ist nicht ausgeschlossen. Präsident Erdogan drohte offen damit, US-Soldaten anzugreifen.
Die YPG hat nach dem türkischen Einmarsch die Regierung in Damaskus um Hilfe gebeten. Tatsächlich sagte Baschar Assad die Entsendung von Streitkräften nach Afrin zu. Für ihn eröffnen sich damit gleich zwei Chancen: Er hat mit dem türkischen Präsidenten Erdogan noch eine Rechnung offen, denn dieser hatte sich wiederholt für den Sturz Assads ausgesprochen.
Gleichzeitig hofft Assad, die Autonomiepläne der Kurden zurückbinden zu können, wenn er sie im Kampf gegen die türkische Armee unterstützt. Allerdings kämpfen bislang nur regierungsnahe Milizen mit der YPG. Die Entsendung von regulären Truppen wurde nach einer Intervention Russlands gestoppt. Denn Wladimir Putin will gute Beziehungen mit Assad und Erdogan.
Im Kalten Krieg waren kriegerische Handlungen zwischen Amerikanern und Russen ein Albtraum-Szenario. In Syrien ist es eingetroffen: Am 7. Februar attackierten Assad-treue Einheiten eine von Kurden bewachte Ölraffinerie bei Deir Ezzor. Unter ihnen befanden sich russische Söldner der «Gruppe Wagner». Die amerikanische Luftwaffe schlug den Angriff zurück.
Dabei sollen mehrere hundert Russen getötet worden sein. Die USA betonen, sie hätten das russische Militär vor dem Angriff gewarnt. Für Russland ist dieses Scharmützel peinlich, denn die Söldnertruppe operiert in einer «Grauzone». Sie erledigt für Putin die «Drecksarbeit» am Boden, ähnlich wie die SDF für die USA. Dies erhöht auch die Gefahr einer Eskalation.
Unter den Konflikten in Syrien ist dies vielleicht der brisanteste. Das Assad-Regime ist der wichtigste Verbündete Irans in der arabischen Welt, es wird von Teheran deshalb mit mehreren tausend Mann unterstützt, darunter Revolutionsgardisten und Milizionäre aus Afghanistan und Irak. Ausserdem sind rund 6000 Kämpfer der libanesischen Hisbollah-Miliz in Syrien aktiv.
Den Israelis ist die Präsenz des Erzfeinds an ihrer Grenze ein Dorn im Auge. In den letzten Jahren griffen sie wiederholt den iranischen Nachschub für die Hisbollah aus der Luft an. Am 10. Februar kam es zur Eskalation, als Israel eine iranische Drohne über den Golanhöhen abschoss. Im Gegenzug holte die syrische Luftabwehr einen israelischen F-16-Kampfjet vom Himmel.
Das kostspielige Engagement in Syrien ist in der iranischen Bevölkerung höchst unpopulär. Für die Hardliner in Teheran aber ist es eine Gelegenheit, den moderaten Präsidenten Hassan Ruhani zu schwächen. Nachdem Wladimir Putin ein weiteres Mal intervenierte, beruhigte sich die Lage vorläufig. Doch die nächste Konfrontation zwischen Israel und Iran ist wohl nur eine Frage der Zeit.
Im syrischen Wahnsinn mischen noch andere Mächte mit, allen voran Saudi-Arabien. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs unterstützte das Königreich die Opposition gegen Baschar Assad. Auch dschihadistische Gruppierungen erhielten Geld und Waffen (moderate Rebellen gibt es so gut wie keine mehr). In erster Linie wollten die Saudis den Erzfeind Iran zurückdrängen.
Die vielen Frontlinien in Syrien lassen nichts Gutes erahnen. «Jeder Zusammenstoss bringt die Gefahr einer offenen Konfrontation mit sich», meint die «Financial Times». Ein Ausweg aus diesem Chaos ist weit und breit nicht in Sicht. Eine von Präsident Putin gross angekündigte Friedenskonferenz in Sotschi endete ohne Ergebnis.
Die eigentlichen Leidtragenden aber sind die Syrerinnen und Syrer. Sie müssen weiter mit dem Horror leben. Und für die Flüchtlingen ist eine Heimkehr auf absehbare Zeit undenkbar.