Ein Selbstläufer werden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei für Präsident Erdogan und seine AKP nicht, jedenfalls gemäss den Umfragen. Die Opposition sieht sich im Aufwind, besonders für die Parlamentswahl. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan absolviert mehrere Auftritte täglich, sein Wahlkampf wirkt verglichen mit früher aber kraft- und einfallslos.
Das Vorziehen der Wahl um fast eineinhalb Jahre war womöglich keine gute Idee. Wenn das Ziel war, die Opposition zu überrumpeln, hat das nicht funktioniert. Und die wirtschaftliche Misere ist jetzt schon das dominierende Thema. Erdogan hat kaum Lösungen parat. Er verspricht viel lieber neue Stadien, Parks und Volkskaffeehäuser, in denen Kaffee, Tee und Kuchen rund um die Uhr gratis sein sollen.
Die Opposition sei ein «Zerstörungsteam». Der Jubel des oftmals herangekarrten Publikums wirkt gelegentlich eher pflichtbewusst. Vom Enthusiasmus früherer Wahlen ist wenig zu spüren, was nicht nur am kürzlich beendeten Fastenmonat Ramadan liegen dürfte.
Die Opposition wittert dagegen erstmals seit Jahren Morgenluft. Der Präsidentschaftskandidat der grössten Oppositionspartei CHP, Muharrem Ince, kann Erdogan rhetorisch das Wasser reichen und begeistert seine Zuhörerschaft mit seiner Schlagfertigkeit. Nach mehr als 15 Jahren Erdogan steht Ince für einen Neuanfang.
Erdogan wird bei der Präsidentenwahl am Sonntag unter den sechs Kandidierenden die meisten Stimmen gewinnen, daran lassen Umfragen keinen Zweifel. Offen ist aber, ob er am 8. Juli in die Stichwahl muss – die AKP bereitet sich darauf vor. Der Gegenkandidat hiesse dann wohl Ince, er könnte auf die Stimmen von Erdogan-Gegnern auch aus anderen Lagern als dem der kemalistischen CHP setzen.
Aus Sicht von Erdogans Gegnern könnte es die letzte Chance sein, die von ihnen befürchtete «Ein-Mann-Herrschaft» zu verhindern. Spätestens in der Stichwahl würde Erdogan vermutlich gewinnen, doch eine zweite Wahlrunde könnte neue Dynamiken freisetzen. Erdogans Nimbus der Unschlagbarkeit wäre angekratzt. Für die Opposition wäre es schon ein grosser Erfolg, würde sie ihn in die Stichwahl zwingen.
Erdogan hat das Land tief gespalten: Etwa die Hälfte der Türken unterstützt ihn, oft bedingungslos. Die andere Hälfte lehnt ihn aus ganzem Herzen ab, dazwischen gibt es nichts. Ince kündigt an, diese Spaltung überwinden und ein Präsident für alle sein zu wollen, unabhängig der Herkunft und Konfession.
Der Ausnahmepolitiker Erdogan, der sich bislang stets durchgesetzt hat und sogar aus dem Putschversuch 2016 gestärkt hervorging, hat diesmal Fehler gemacht. Einer der schwerwiegendsten dürfte eine Gesetzesreform gewesen sein, die nun erstmals Bündnisse von Parteien bei Parlamentswahl erlaubt. Erdogan dürfte kaum damit gerechnet haben, dass sich die sonst zerstrittene Opposition zusammenrauft.
Sie rief ebenfalls ein Bündnis ins Leben, das ungleiche Partner zusammenbrachte. Dort haben im Wesentlichen Kemalisten (CHP), Nationalisten (Iyi-Partei) und Islamisten (Saadet-Partei) zusammengefunden, die zwar jeweils eigene Präsidentschaftskandidaten stellen, die aber ihre Gegnerschaft zu Erdogan eint.
Nicht im Bündnis ist die pro-kurdische HDP, die mit ihrem inhaftierten Ex-Chef Selahattin Demirtas auch einen eigenen Präsidentschaftskandidaten stellt. Dem Erdogan-Gegner werden keine Chancen auf die Stichwahl vorhergesagt. Viele seiner Anhänger dürften in einer zweiten Runde Ince wählen, Erdogan jedenfalls sicher nicht.
Bei der zeitgleichen Parlamentswahl könnte Erdogans AKP die absolute Mehrheit verlieren, wenn die HDP die Zehn-Prozent-Hürde überwindet. Auch das wäre für die Opposition ein gigantischer Erfolg, der die Türkei allerdings lähmen könnte: Erdogans Präsidialsystem ist nicht darauf ausgelegt, dass die Opposition – die das System wieder abschaffen will – das Parlament kontrolliert. (whr/sda)