Recep Tayyip Erdogans Kopf ist überall. Auf riesigen Flaggen, auf Plakaten, an Hausmauern. Von überall her lächelt er den Leuten zu, die an ihm vorbeischlendern. Istanbul ist in diesen Stunden in rote Farbe gehüllt. Das türkische Wort «Evet» prangt an jeder Ecke. Es fordert das türkische Stimmvolk auf, am Sonntag, dem 16. April ein «Ja» in die Urne zu legen. Ein «Ja» für Erdogans Präsidialsystem, das ihn mit fast uneingeschränkter Macht ausstatten würde.
Auf den letzten paar Metern gibt Erdogan noch einmal richtig Gas. Wenige Stunden vor der Abstimmung tourt er an diesem Samstag durch Istanbul, hält Reden, lässt sich feiern. An verschiedenen Orten gibt es Public Viewings, die seine Auftritte live übertragen. Immer wieder werden Menschen in Bussen hingekarrt, die fahnenschwingend einmarschieren und auf den Plastikstühlen Platz nehmen. Es sind junge Menschen, die sagen, dass sie sich ein starkes Land mit einem starken Führer wünschen. Es sind ältere Männer, die sagen, dass es keine Zukunft für die Türkei gibt ohne Erdogan. Eine Frau bricht in Tränen aus, als sie auf dem Bildschirm den Präsidenten sieht und seinen Worten lauscht.
Das Nein-Lager hingegen ist kaum wahrnehmbar. Hin und wieder flattern ein paar weisse Hayir-Fähnchen im Wind, die von einer Häuserzeile zur gegenüberliegenden gespannt sind. Auf dem Boden, an Strassenlaternen oder auf Treppengeländern kleben Nein-Stickers. Auftritte von oppositionellen Politikern finden keine statt. Ein Mann erklärt, das habe einerseits damit zu tun, dass das Nein-Komitee nicht über dieselben finanziellen Mitteln verfügt, wie die Befürworter des Referendums. Andererseits komme es auch immer wieder zu willkürlichen Verhaftungen, wenn Leute öffentlich für ein «Nein» am Sonntag werben. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) kritisierte kürzlich, dass die Türkei hart gegen Kritiker des Referendums vorgehe. Eine faire Abstimmung ist so nicht möglich.
Und trotzdem sagen die Umfragen einen knappen Ausgang voraus. Noch ist völlig offen, was mit der Türkei am Sonntag geschehen wird.
Die Türkinnen und Türken versuchen indes den Ausnahmezustand ein wenig zu vergessen. Dass nur in wenigen Stunden über die Zukunft des Landes entschieden wird, ist an der Haupteinkaufsstrasse, der Istikal-Street, nicht spürbar. Hier wird gemächlich an Kleiderläden, Marroniverkäufern und Strassenkünstlern vorbei flaniert. Ein Eisverkäufer lockt Kundschaft an und bimmelt mit den Glöckchen an seiner Theke. Ein alter Bettler stützt sich auf einem Stock und streckt den Passanten die hohle Hand entgegen. So als wäre es ein ganz normaler Tag, in der 15 Millionen Metropole.