Zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik wird gleichzeitig über den Präsidenten und das Parlament abgestimmt. Rund 56 Millionen türkische Staatsbürger sind angehalten, am Sonntag an die Wahlurnen zu strömen und ihre Stimmen abzugeben.
Auf dem ersten Zetteln können die Stimmberechtigten ihren Favoriten für das Präsidentenamt und auf dem anderen die gewünschte Partei oder Allianz für das Parlament ankreuzen. Beide Zettel werden zusammen in ein Couvert gesteckt und zwischen 7 und 16 Uhr in eine Wahlurne geworfen.
Um als Präsident gewählt zu werden, muss ein Kandidat mehr als 50 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten. Erreicht dies am Sonntag noch niemand, kommt es am 8. Juli zu einer Stichwahl. Ins Parlament einziehen kann, wer die zehn Prozent Hürde schafft.
Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan regiert die Türkei seit 2014 und hat noch lange nicht vor, den Hut zu ziehen. Im Gegenteil. Er unternimmt grosse Anstrengungen, um sich seine Macht für die nächsten Jahre zu sichern. Mit seiner islamisch-konservativen Regierungspartei der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) polarisiert er und spaltet das Land. Und doch geniesst er nach wie vor bei vielen Türken grosses Ansehen.
Muharrem Ince tritt für die Republikanische Volkspartei CHP an. Der 54-jährige ehemalige Physiklehrer gilt als der grosse Widersacher von Erdogan. Als leidenschaftlicher Redner und Rhetoriker schafft er es, die zersplitterte Opposition zumindest ein bisschen zu vereinen und hinter sich zu scharen. Ince gilt als am rechten Rand politisierender Sozialdemokrat und will mit seiner säkularen CHP Erdogan dort attackieren, wo er am verletzlichsten ist: bei der Wirtschaftsentwicklung.
Viele Türken machen den amtierenden Präsidenten für die steigende Arbeitslosigkeit und Inflation verantwortlich. Ince verspricht, den Ausnahmezustand aufzuheben, der seit dem Putsch von 2016 im Land gilt, das Präsidialsystem von Erdogan abzuschaffen und das parlamentarische System wieder einzuführen. Inces Problem jedoch ist, dass er für die Millionen von religiösen Türken als Säkularer nicht wählbar ist.
Meral Aksener geht für die nationalkonservative Iyi-Partei (die Gute Partei) ins Rennen. Bis 1997 war sie Innenministerin und politisierte danach für die rechtsextreme Nationalistische Bewegung MHP. Nach einem Streit wurde sie aus der Partei ausgeschlossen und gründete daraufhin die Iyi.
Für Erdogan ist Aksener insofern gefährlich, als dass sie mit ihrer nationalistischen Politik die gleichen Wählerkreise anzusprechen vermag.
Selahattin Demirtas tritt für die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker HDP für das Präsidentenamt an. Der charismatische Anwalt sitzt allerdings seit Ende 2016 in Untersuchungshaft und muss seinen Wahlkampf von einer Gefängniszelle aus bestreiten. Wie so vielen Kurden wird ihm Terrorpropaganda vorgeworfen.
Als ehemaliger Präsident der HDP hat er 2014 die Kurdenpartei mit einem Wahlergebnis von überraschenden 14 Prozent ins Parlament geführt und damit Erdogan zur Weissglut getrieben. Seine Unterstützer sind jung, gut gebildet, links und urban.
Zwar sind seine Erfolgschancen auf das Präsidentenamt klein. Jedoch wird seine Wahlempfehlung eine grosse Rolle spielen, sollte es am 8. Juli zu einer Stichwahl kommen.
Ausserdem kandidieren Temel Karamollaoglu für die islamistische Saadet-Partei und Dogu Perincek für die linksnationalistische Vatan-Partei.
Zur Parlamentswahl tritt eine Vielzahl von Parteien und Splitterparteien an. Die wichtigsten sind die islamisch-konservative Regierungspartei AKP, die eine Allianz mit der ultranationalistischen MHP und der nationalistischen BBP gebildet hat. Die grösste Oppositionspartei CHP tritt in einem Bündnis mit der nationalkonservativen Iyi-Partei, der islamistischen Saadet-Partei und der konservativ-liberalen DP an. Die pro-kurdische HDP geht als einzelne Partei ins Rennen.
Experten sprechen von den wichtigsten Wahlen in der Geschichte der türkischen Republik, die vor bald hundert Jahren gegründet wurde. Denn mit den Wahlen am Sonntag findet in der Türkei ein Wechsel von der parlamentarischen Demokratie zu einem Präsidialsystem statt. Den Grundstein für diesen Verfassungswechsel legte Erdogan im Frühling vor einem Jahr. Damals hat er mit 51,4 Prozent sein Referendum knapp am Volk vorbei gebracht.
Die Regierungschefs von Europa sind über diesen Wechsel besorgt. Denn im Präsidialsystem wird das Parlament geschwächt und Erdogan, sofern er denn als Präsident bestätigt wird, erhält mehr Macht. Künftig kann er Minister nach belieben ein- und absetzen und das Parlament auflösen und Neuwahlen ausrufen. Damit ist das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung in der Türkei offiziell aufgeweicht.
Vor den Wahlen sichere Prognosen abzugeben ist sehr schwierig. Auch weil viele Meinungsforscher als parteinah gelten und es nicht klar ist, wie sich die Zahlen ihrer Forschungen zusammensetzen. Und doch rechnen derzeit die meisten Demoskopen damit, dass Erdogan am Sonntag rund 45 Prozent der Stimmen erreichen wird. Damit müsste er am 8. Juli zur Stichwahl antreten.
Meinungsforscher rechnen damit, dass der CHP-Politiker Muharrem Ince am Sonntag 20 Prozent der Stimmen erreichen könnte. Einigen sich die Oppositionellen danach auf ihn als Kandidaten, könnte er Erdogan bei einer Stichwahl arg in Bedrängnis bringen.
Iyi-Chefin Meral Aksener kommt laut Umfragen auf rund elf Prozent Zuspruch. Kommt es zu einer Stichwahl, will sie den stärksten Oppositionskandidaten unterstützen, was aller Wahrscheinlichkeit nach Ince sein wird.
Eigentlich hätten die Präsidenten- und Parlamentswahlen im November 2019 stattfinden sollen. Doch Erdogan zog sie fast eineinhalb Jahre vor. So versuchte er, seine Kontrahenten zu überrumpeln und sich die Macht zu sichern.
Viele sehen den Putschversuch von Juli 2016 als den Katalysator für Erdogans Staatsumbau zu einer Autokratie. Denn nach dem gescheiterten Aufstand rief er den Ausnahmezustand aus und verlängerte diesen alle drei Monate – bis heute.
Unter dem Deckmantel dieses Ausnahmezustandes schränkte Erdogan Grundrechte ein, liess hunderte von Oppositionellen verhaften und regierte per Dekret. Dass Erdogan im Januar dieses Jahres zudem eine militärische Offensive gegen die syrische Kurdenstadt Afrin führte, sehen Experten als taktischen Schachzug. So wollte er den nationalen Zusammenhalt im Land stärken und seine Popularität steigern.
Die Urnen schliessen in der Türkei um 16 Uhr. Erste Ergebnisse werden am Abend erwarten. Bei früheren Wahlen stand der Sieger bereits am späten Abend fest.