
Recep Tayyip Erdogan mobilisiert das Volk gegen den «Feind» Europa.Bild: AP/Pool Presidential Press Service
Der Streit um
Auftritte türkischer Politiker in Europa ist in den letzten Tagen
eskaliert. Präsident Recep Tayyip Erdogan stösst Drohungen aus. Wer
sitzt in dem Konflikt am längeren Hebel?
14.03.2017, 09:2114.03.2017, 21:18

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Die Türkei hat ein neues Feindbild: Das
Königreich der Niederlande. «Hey Holland, wenn Ihr die
türkisch-niederländischen Beziehungen vor den Wahlen am Mittwoch
opfert, werdet Ihr den Preis dafür bezahlen», sagte Präsident
Recep Tayyip Erdogan am Sonntag in
Istanbul. «Wir werden ihnen internationale Diplomatie beibringen»,
fügte Erdogan an. Wie tags zuvor warf er den Niederlanden
nationalsozialistische und «faschistische» Methoden vor.
Die Nazi-Keule ist das neue
Lieblingsspielzeug von Erdogan, der damit seine eigene Vorstellung von Diplomatie unterstreicht. In einem Punkt
dürfte der erratische Staatschef recht haben: Die Eskalation vom
Wochenende hängt stark mit den niederländischen Wahlen vom Mittwoch
zusammen. Allerdings dürfte die Türkei mindestens so stark an der
Schraube gedreht haben wie die Holländer, oder noch stärker. Der
Eklat kommt ihr durchaus gelegen.
Mit den provokativen Auftritten von
Politikern der Regierungspartei AKP, die in verschiedenen Ländern – darunter der Schweiz – Stimmung machen für die
Verfassungsabstimmung vom 16. April, scheint es die
Türkei regelrecht auf einen Streit mit den Europäern angelegt zu
haben. Wie ernst aber kann man die Drohungen von Erdogan nehmen? Ein
Überblick über Bereiche, in denen gemeinsame Interessen bestehen.
Der Flüchtlingsdeal
Auf den ersten Blick haben die Türken
hier die besten Karten. Erdogan und seine Minister haben mehrfach
gedroht, das im März 2016 mit der EU vereinbarte Flüchtlingsabkommen
platzen zu lassen. In Europa fürchten sich viele vor
Flüchtlingsströmen wie im Spätsommer und Herbst 2015. Womöglich
zu Unrecht: Die faktische Abriegelung der Balkanroute und die teils
bedenklichen Zustände in den Hotspots in Griechenland haben die
Flucht über die Ägäis unattraktiv gemacht.

Ein türkischer Polizist hindert Flüchtlinge an der Überfahrt nach Griechenland.Bild: reuters
Die Türkei profitiert zudem finanziell,
die Europäer überweisen ihr rund drei Milliarden Euro. Die
Regierung in Ankara wird sich deshalb hüten, den Flüchtlingsdeal platzen lassen. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die
vehement geforderte Visafreiheit für türkische Staatsbürger noch
immer auf sich warten lässt. Mit der Eskalation ist
dies auf absehbare Zeit kein Thema mehr. Trotzdem blieb es in den letzten Tagen um das Abkommen« auffallend ruhig», schreibt Spiegel Online.
Die NATO
Aussenminister Mevlüt Cavusoglu drohte
am Samstag indirekt mit einem Austritt aus der NATO. Die Türkei ist
ein wichtiger Partner im nordatlantischen Verteidigungsbündnis. Sie
verfügt über die zweitstärkste NATO-Armee nach den USA. Im Kampf
gegen die Terrormiliz «Islamischer Staat» («IS») spielt sie eine zentrale
Rolle. Vom Stützpunkt Incirlik werden Luftangriffe auf IS-Stellungen in Syrien und Irak durchgeführt. Die USA sollen zudem
in Incirlik Atomsprengköpfe stationiert haben.

Tornados der Bundeswehr auf dem Stützpunkt Incirlik.Bild: POOL/REUTERS
Ein Austritt der Türkei würde das
Bündnis schwächen. Doch die Abhängigkeit auf der
Gegenseite ist fast noch grösser, denn die Türkei befindet sich in
einer geopolitisch unruhigen und instabilen Region, sie ist auf
starke Partner angewiesen. Verteidigungsminister Fikri
Isik fordert die NATO an der Münchner Sicherheitskonferenz im
Februar eindringlich auf, nicht nur im Osten aufzurüsten, sondern
auch an ihrer Südflanke, «vor allem im Südosten».
Der EU-Beitritt
Seit 2005 verhandelt die Europäische
Union mit der Türkei über einen Beitritt. Die Gespräche kamen nur
schleppend voran und liegen faktisch auf Eis, seit die Türkei nach
dem Putschversuch im letzten Sommer zunehmend in Richtung Autokratie
abdriftet. Präsident Erdogan stellte im November ein Referendum
darüber in Aussicht, ob die Verhandlungen fortgesetzt werden sollen.

Schleppende Verhandlungen: Der türkische Chefunterhändler Volkan Bozkir (l.) und EU-Kommissar Johannes Hahn.Bild: LAURENT DUBRULE/EPA/KEYSTONE
Allerdings haben die Türken auch in
diesem Bereich handfeste finanzielle Interessen. Als Kandidat für
einen EU-Betritt haben sie Anspruch auf Finanzhilfe von mehr als vier
Milliarden Euro für den Zeitraum von 2014 bis 2020. Davon wurde
bislang nur ein Bruchteil ausbezahlt, sagte der österreichische
EU-Kommissar Johannes Hahn in einem Interview. «Die Türkei bewegt
sich im Moment leider nicht auf Europa zu, sondern von Europa weg»,
meinte Hahn.
Die Wirtschaft
Nach dem Wahlsieg der AKP 2003 erlebte
die Türkei einen beispiellosen Wirtschaftsboom mit Wachstumsraten
von chinesischem Ausmass. Er ist einer der Hauptgründe für die
Popularität von Recep Tayyip Erdogan. Im unruhigen Jahr 2016 ging
das Wachstum jedoch stark zurück, und die Auslandsinvestitionen
brachen um fast ein Drittel ein. Experten warnen, dass sich die
rapide Verschlechterung im Verhältnis zwischen der Türkei und
Europa auf die Wirtschaft auswirken wird.

Wechselstube in Istanbul: Die türkische Lira schwächelt wie die gesamte Wirtschaft.Bild: SEDAT SUNA/EPA/KEYSTONE
In Ankara ist man sich dessen bewusst
und bemüht sich ungeachtet der Drohgebärden um neue Investitionen.
Rund die Hälfte der türkischen Exporte geht in die EU und
insbesondere nach Deutschland, den wichtigsten Handelspartner.
Vizeregierungschef Mehmet Simsek reiste deshalb im Februar auf
Werbetour nach Deutschland. Wichtig für die Türkei auch die seit 20
Jahren bestehende Zollunion mit der EU. Hier wird sogar über eine
Ausweitung verhandelt.
Der Tourismus
«Lasst uns mal sehen, wie eure
Flugzeuge in Zukunft in die Türkei kommen», sagte Recep Tayyip
Erdogan am Samstag an die Adresse der Niederlande. Die Hoteliers in
Antalya, Bodrum oder Side dürften zusammengezuckt sein. Die Türkei
erwirtschaftet rund 30 Milliarden Dollar pro Jahr im Feriengeschäft, doch
Terroranschläge und die politische Lage führten zu einem Einbruch. 2016 reisten rund 25 Millionen Touristen in die Türkei,
zehn Millionen weniger als im Vorjahr.

Mevlüt Cavusoglu poltert gegen Europa und macht in Berlin Werbung für Ferien in der Türkei.Bild: Michael Sohn/AP/KEYSTONE
Die Verhaftung des deutsch-türkischen
Journalisten Deniz Yücel hat Gäste aus
Deutschland zusätzlich abgeschreckt. Aussenminister Cavusoglu und Tourismusminister Nabi
Avci kamen deshalb letzte Woche für eine Charmeoffensive an die ITB in
Berlin, die weltweit führende Fachmesse im Fremdenverkehr. Sie kündigten unter anderem Subventionen für Airlines von 6000 US-Dollar
pro Maschine an. So viel zu Erdogans «Landeverbot».
Die Auflistung zeigt, dass die Türkei
stärker von Europa abhängig ist als umgekehrt. Kenner des
Landes interpretieren die Eskalation der letzten Tage denn auch als
Getöse im Kampf um das Verfassungsreferendum. Die Einführung eines
Präsidialsystems, das Erdogan eine enorme Machtfülle einräumt,
scheint nicht alle Türkinnen und Türken zu erfreuen.
Deshalb gilt es, die Auslandstürken zu
mobilisieren und im Inland die Reihen gegen den gemeinsamen «Feind» zu schliessen. Nach dem 16. April könnte es zu einer Normalisierung
kommen. Seinen grossspurigen Worten hat Erdogan ohnehin nur selten
Taten folgen lassen.
Militärputsch in der Türkei
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