Die Abendsonne scheint über die Baumwollfelder rings um Akcakale, einer türkischen Kleinstadt an der Grenze zu Syrien. Bäuerinnen pflücken die weissen Büschel von den Stauden; Kleinkinder spielen an der Schotterstrasse, die an der Grenze entlang läuft. Ruhe und Frieden liegen über dem Land – und enden wie der Schotterweg jäh an frisch aufgewühlten Erdhügeln mitten in den Feldern. Ein Kanonenrohr ragt aus dem Erdreich hervor, ein Wachposten in Tarnfarben hebt den Arm. Die Bauern werden nicht mehr viel Zeit haben, ihre Ernte einzubringen: Hier gräbt sich die türkische Armee ein für den Einmarsch nach Syrien.
«Aufnahmen sind hier nicht erlaubt, sagt mein Kommandant», erklärt der Soldat zum Autofenster herab gebeugt. Eine Haubitze und mehrere Schützenpanzer sind neben der Strasse eingegraben, Mannschaftsunterkünfte in Zelten aufgeschlagen. Ein Hund in Geschirr begleitet einen der Soldaten. Das Grenzgebiet ist noch von früher vermint.
Über mindestens 100 Kilometer entlang der Grenze hat die türkische Armee ihre Truppen für den Einmarsch in Stellung gebracht. Die Vorbereitungen seien abgeschlossen, teilt das Verteidigungsministerium in Ankara mit. Nach unbestätigten Berichten eröffnet die türkische Artillerie nachts bei der Stadt Ceylanpinar weiter östlich das Feuer auf Stellungen der Kurdenmiliz YPG auf der syrischen Seite.
Die Kurden werden schwere Gegner seinDie Kurdenmiliz ist das Hauptziel des türkischen Einmarsches. Sie hatte jahrelang zusammen mit den USA gegen den Islamischen Staat gekämpft und dafür amerikanischen Schutz beim Aufbau eines Autonomiegebietes erhalten. Ankara betrachtet das Gebiet als «Terror-Korridor», der zerstört werden muss.
Zunächst will die türkische Armee die kurdischen Kämpfer mit Artillerie und Angriffen aus der Luft aus dem Grenzgebiet zurückdrängen. Anschliessend sollen Elite-Truppen auf dem Boden zum Einsatz kommen. Ein Spaziergang dürfte der Feldzug aber nicht werden. Die Kurden verfügen über gut ausgebildete Einheiten mit langer Kampferfahrung.
Im Zentrum von Akcakale haben sich Einwohner am geschlossenen Grenzübergang versammelt, um hinüber ins syrische Tel Abiad zu spähen. «Sieh mal, dort drüben stehen sie auch und gucken, genau wie wir», sagt ein Mann im knöchellangen Kaftan und weist mit dem Kinn auf eine Gruppe winziger Gestalten, die auf einem Dach jenseits der Grenze zu sehen sind. «Die warten auch, was nun geschehen wird, genau wie wir.» Am Morgen sollen die Amerikaner aus Tel Abiad abgezogen sein; jederzeit könne es nun losgehen mit dem türkischen Einmarsch.
An der Mauer laufen Schienen entlang. Kommt man zu nahe an die Gleise, treten zwei Soldaten hervor und lassen die Sicherungen an ihren Sturmgewehren klicken. Die Schienen gehören zur Bagdadbahn, die deutsche Bauherren zu Beginn des 20. Jahrhunderts hier bauten. Von Berlin nach Bagdad sollte die Trasse reichen und dem Deutschen Reich den Zugang zum Persischen Golf eröffnen. Heute fährt die Bahn nicht mehr, doch ihre Gleise markieren noch immer die Grenze zwischen der Türkei und Syrien.
Keine hundert Jahre alt sei diese Grenze, sagt Ibrahim, der in Akcakale mit Gebetsketten handelt. Die Menschen auf beiden Seiten dieser Grenze seien miteinander verwandt. Bei vielen der 50'000 Flüchtlinge in Akcakale handelt es sich um Verwandte der Einwohner aus Tel Abiat, die seit Kriegsausbruch über die Grenze gekommen sind und von ihren türkischen Angehörigen aufgenommen wurden.
Auberginen trotz KriegsgefahrDem Einmarsch im Nachbarland sehen die meisten Einwohner von Akcakale gleichmütig entgegen. Empörung gibt es hier nicht. Begeistert sind sie freilich auch nicht: Der schlechteste Frieden sei einem Krieg vorzuziehen, sagt der Automechaniker Mehmet, der keine hundert Meter von der Grenze seine Garage mit Wasser ausspritzt.
Es ist nicht das erste Mal, dass der Krieg nach Akcakale kommt: Vor sieben Jahren starben in der Stadt fünf Menschen beim Einschlag von syrischen Geschossen. Heute befürchten viele Einwohner, dass ihre Stadt wieder zum Kampfgebiet werden könnte, doch von Panik ist trotz des militärischen Grossaufmarsches nichts zu spüren. Die Schulkinder laufen nach dem Unterricht mit ihren Rucksäcken nach Hause, auf den Feldern geht die Ernte weiter, die Gemüsehändler stellen Kisten mit Auberginen und Pepperoni vor ihre Läden.
Ein Hauch von Fatalismus liegt über der Stadt. «Bei uns im Haus schlugen damals auch Kugeln ein», sagt Mechaniker Mehmet über den Beschuss des Jahres 2012. Fliehen wird er auch diesmal nicht: «In dieser Weltgegend kann es dich überall erwischen.» (bzbasel.ch)