Vor der angekündigten Offensive auf die Rebellenhochburg Idlib in Syrien warnt die UNO vor der grössten humanitären Katastrophe im 21. Jahrhundert. Die Welt dürfe nicht «schlafwandlerisch» in diese Krise gehen, sagte UNO-Nothilfekoordinator Mark Lowcock am Dienstag in Berlin angesichts der geschätzten drei Millionen Zivilisten in der Provinz im Nordwesten des Bürgerkriegslandes.
UNO-Syrienvermittler Staffan de Mistura appellierte in Genf an die Präsidenten Russlands und der Türkei, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan, in einem direkten Telefonat im letzten Moment eine Eskalation zu verhindern. Auf dieser Ebene könne noch ein Ausweg gefunden werden, der zumindest das Leben der Zivilisten schone.
Derweil wurde die Region laut Menschenrechtlern und Rebellen von Dutzenden russischen Luftangriffen getroffen, die eine Bodenoffensive vorbereiten sollen.
Laut der syrischen amtlichen Nachrichtenagentur Sana griffen israelische Kampfflugzeuge am Dienstag Militärstellungen im Nordwesten Syriens an. Die Angriffe hätten Militäreinrichtungen in den Provinzen Tartus und Hama gegolten. Eine Sprecherin der israelischen Armee wollte sich zu den Berichten zunächst nicht äussern.
Die oppositionsnahen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete in mehrere Explosionen in Masjaf und Wadi al-Ujun bei Hama und nahe der Küstenstadt Tartus. Ins Visier genommen worden seien Regionen, in denen sich iranische Militäreinrichtungen befänden.
Die Region Idlib im Nordwesten Syriens ist das letzte grosse Gebiet des Landes, das noch von Rebellen beherrscht wird. Dominiert werden diese von dem Al-Kaida-Ableger Haiat Tahrir al-Scham (HTS), der früheren Al-Nusra-Front. Syriens Regierung hat Truppen zusammengezogen und droht mit einem Angriff zusammen mit ihren Verbündeten Russland und Iran.
Lowcock zufolge leben in Idlib mehr als eine Million Kinder. Auf einen der oft extremistischen Kämpfer kämen rund 100 Zivilisten. Er sei in der vergangenen Woche in Damaskus gewesen und sei nach den Gesprächen höchst alarmiert. Es müsse alles unternommen werden, um eine blutige Schlacht zu verhindern. Gleichzeitig müsse es aber Vorbereitungen geben, um in diesem Falle Zivilisten helfen zu können.
Die Türkei, die im Falle einer Eskalation Flüchtlingsströme in Richtung seiner Grenze befürchtet, brachte einem Medienbericht zufolge weiteres Kriegsgerät in die Grenzregion.
Acht Frachtfahrzeuge beladen mit Panzern und schweren Geschützen hätten die Grenzprovinz Kilis passiert, meldete die Zeitung «Hürriyet» am Dienstag. Idlib liegt nur etwa 30 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Die Türkei unterhält in der Provinz Beobachtungsposten und ist Schutzmacht einer De-Eskalationszone.
Die Panzer habe das Militär auf die andere Seite der Grenze gebracht. Sie sollen laut Quellen aus Sicherheitskreisen helfen, mögliche Flüchtlingsbewegungen in Richtung Türkei aufzuhalten und mit Systemen zur Beobachtung von Flüchtlingsbewegungen ausgestattet sein, berichtete «Hürriyet» weiter.
Die türkische staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, auch in der weiter südwestlich gelegenen Grenzprovinz Hatay seien Lastwagen mit Panzern darauf angekommen. Sie sollten später in Grenzbezirke gebracht werden, um dort Befestigungen zu verstärken.
Russische Kriegsflugzeuge hatten am Morgen der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge etwa 40 Luftangriffe in 20 Gebieten Idlibs geflogen. Präsidialamts-Sprecher Dmitri Peskow sprach davon, dass sich in der Provinz «das nächste Terroristennest gebildet» habe.
«Wir wissen, dass die syrischen Streitkräfte sich darauf vorbereiten, das Problem zu lösen», sagte er der Agentur Interfax zufolge. Ein Datum für die Offensive nannte er nicht. Die syrische Regierung bezeichnet alle Oppositionellen als Terroristen.
Der Westen ist aufgrund der Pläne und früheren blutigen Offensiven auf Rebellengebiete in Aleppo oder Ost-Ghuta alarmiert. US-Präsident Donald Trump warnte Russland und den Iran, im Falle einer Schlacht in die Kämpfe einzugreifen.
«Die Russen und Iraner würden einen schwerwiegenden humanitären Fehler machen, wenn sie bei dieser möglichen menschlichen Tragödie mitmachen», twitterte Trump am Montag (Ortszeit). Hunderttausende Menschen könnten bei einem Angriff des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad getötet werden. «Lasst das nicht zu!», schrieb Trump.
Am Freitag wollen Russland und der Iran als Unterstützer der Regierung und die Türkei als Schutzmacht der Opposition über den Syrien-Krieg beraten. Beobachter rechnen damit, dass sich dort das Schicksal Idlibs entscheiden könnte.
UNO-Syrienvermittler de Mistura sah am Dienstag eine gewisse Chance für eine Wiederbelebung des Friedensprozesses in dem Bürgerkriegsland. Er sprach von einem «Moment der Wahrheit», wenn er sich am 10. und 11. September mit Vertretern der Türkei, des Irans und Russlands in Genf treffe. (leo/sda/dpa/reu)