Ein Handelsboykott gegen Israel und das ausgerechnet von Siemens? Der Konzern hat laut einer Recherche des SWR für ein mehrere Hundert Millionen Euro schweres Geschäft mit der türkischen Staatsbahn eine Verpflichtungserklärung zu einem Israel-Boykott unterzeichnet. Laut dem Sender belegten das interne Firmenunterlagen.
Konkret ging es um zehn Hochgeschwindigkeitszüge für die türkische Staatsbahn TCDD. Die Ausschreibung hatte Siemens bereits 2018 gewonnen, später wurde der Auftrag noch erweitert. Das Volumen: anfangs rund 341 Millionen Euro. Wie nun bekannt wurde, soll ein beteiligter saudi-arabischer Geldgeber verlangt haben, dass der Konzern eine Boykotterklärung gegen Israel unterzeichnet. Das macht das Siemens-Geschäft politisch so umstritten, schliesslich hat der Konzern durch seine Beschäftigung von Zwangsarbeitern während des Nationalsozialismus ein ganz besonderes Verhältnis zu Israel.
Rechtlich allerdings ist das Geschäft kaum angreifbar, denn es kommt, wie so oft, auf die Details an. Denn nicht der Siemens-Mutterkonzern in Deutschland hat den Auftrag des türkischen Staatskonzerns gewonnen, sondern ein von der Siemens AG und seiner türkischen Tochter Siemens AŞ im Jahr 2018 gebildetes Konsortium.
Um die Hochgeschwindigkeitszüge zu finanzieren, nahm die türkische Staatsbahn einen Kredit bei der saudischen Islamic Development Bank (IsDB) auf. Diese forderte, dass in der Ausschreibung für den Auftrag sich alle Partner an die Boykottbestimmungen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, der Liga der Arabischen Staaten sowie der Afrikanischen Union halten und dies auch mit einer Verpflichtungserklärung belegen. De facto bedeutet dies, dass Siemens keinerlei Geschäfte mit Israel machen darf. Solche Boykottverpflichtungen kommen immer wieder vor und dienen dazu, ein Land wirtschaftlich unter Druck zu setzen.
Für Siemens wäre diese Bedingung eigentlich ein Ausschlusskriterium gewesen. Denn nach deutschem Gesetz – konkret geht es um die Aussenwirtschaftsverordnung, Paragraf 7 – sind solche Boykottverpflichtungen verboten. Ein Verstoss dagegen kann mit einer Strafzahlung in Höhe von einer halben Million Euro geahndet werden. Die Verordnung regelt, wie die Bestimmungen aus dem Aussenwirtschaftsgesetz umgesetzt werden. Und ein Grundsatz in diesem Gesetz ist die Freiheit des Handels unter Einhaltung demokratischer Spielregeln. Boykottregeln sind daher tabu.
Daher ersannen die Rechtsexperten bei Siemens offenbar eine geschickte Konstruktion, mit welcher der Konzern den millionenschweren Auftrag einerseits erfüllen konnte und andererseits rechtskonform handelte: Das Ganze wurde als Gemeinschaftsprojekt von der türkischen Siemens-Tochter durchgeführt – damit galt türkisches Recht. Mit einer Vollmacht im Namen der Siemens AG unterzeichnete insofern die Tochter, berichtet der SWR. Der Konzern erhielt den Zuschlag.
Johannes Wallacher, Professor für Sozialwissenschaften und Wirtschaftsethik an der Münchner Hochschule für Philosophie, bezeichnet den Deal als «moralisch fragwürdig». Letztlich handele es sich um eine «Feigenblattlösung» für beide Seiten – denn durch die Umgehung der Boykottverpflichtung mithilfe der türkischen Tochterfirma gelte diese nicht für die Siemens AG.
Zu dem Vorgang befragt, erklärte der Konzern laut SWR lediglich, dass er sich an «alle nationalen und internationalen Compliance-Standards» halte. ZEIT ONLINE gegenüber teilt Siemens mit, man sei «bereits seit rund 60 Jahren in Israel als vertrauensvoller Partner in verschiedenen Geschäftsbereichen aktiv, dort sehr tief verwurzelt – sowohl geschäftlich wie auch gesellschaftlich». Zudem verweist das Unternehmen auf seiner Website darauf, dass ethische Geschäftspraktiken für den Konzern grundlegend seien.
Das allerdings sind für den Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner lediglich Lippenbekenntnisse. «Siemens redet blumig von Unternehmensverantwortung, die doch stets nur unter dem Vorbehalt von Gewinnstreben zu stehen scheint», sagt der Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen. Er fordert ein Unternehmensstrafrecht, «das den Unternehmen ökonomisch wirklich wehtut». Ordnungswidrigkeiten im sechs- oder siebenstelligen Euro-Bereich würden Unternehmen bei Aufträgen wie diesem – im Wert von mehr als 300 Millionen Euro – sonst nur «müde weglächeln».
Dem Wirtschaftsethiker Wallacher zufolge ist es wichtig, dass sich alle ethischen Regeln auch verbindlich auf Tochterfirmen erstrecken. Er fordert zudem eine «ehrliche Debatte darüber, wie man solche Schlupflöcher im Aussenwirtschaftsgesetz» generell schliessen könne. Volker Beck, ehemaliger Grünen-Bundestagsabgeordnete und heutiger Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, hat laut SWR sogar angekündigt, Anzeige zu erstatten, um das Vorgehen von Siemens rechtlich überprüfen zu lassen. Auch er verlangt, das Aussenwirtschaftsgesetz nachzuverschärfen, um solche Fälle wie Siemens' zu verhindern.
Eine Verschärfung ist allerdings kein Selbstläufer. Die Ökonomin Feodora Teti, stellvertretende Leiterin des ifo Zentrums für Aussenwirtschaft, gibt zu bedenken, dass dies der deutschen Wirtschaft möglicherweise auch schaden könne. «Wenn solche Änderungen sehr restriktiv sind und viele Unternehmen beim Abschluss von Geschäften behindert, wäre das ein Wettbewerbsnachteil; ob man es aus ethischen Gründen dennoch forciert, ist eine politische Entscheidung», sagt die Aussenhandelsexpertin.
Am Ende wird das Ganze für Siemens zunächst wohl keine rechtlichen Konsequenzen haben, weder strafrechtlich noch indirekt durch eine Gesetzesverschärfung. Jedoch entsteht dadurch ein Imageschaden.
Wie man einen solchen übersteht, damit hat der Konzern allerdings reichlich Erfahrung. Bestes Beispiel ist die zähe Aufarbeitung der Rolle von Siemens im Nationalsozialismus. Noch 1992 lehnte Siemens Entschädigungen mit dem Argument ab, der Konzern habe Zwangsarbeiter «nicht freiwillig genommen» und sich an ihnen «nicht ungerechtfertigt bereichert». 2006 wurde einer der wohl grössten Korruptionsskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte bekannt. Der Konzern hatte über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren systematisch Schmiergelder in Höhe von 1.3 Milliarden Euro an Beamte und Geschäftspartner verteilt, um Aufträge zu akquirieren. Der Skandal stürzte Siemens in eine tiefe Krise, Chefs wie Heinrich von Pierer traten zurück, das Unternehmen musste mehrere Hundert Millionen Euro Bussgeld zahlen.
Heute allerdings steht das Unternehmen wirtschaftlich gut da. Siemens scheint auch von der aktuell schwächelnde Konjunktur kaum etwas zu spüren. Im vergangenen Geschäftsjahr erwirtschaftete der Konzern ein Rekordergebnis von 10.3 Milliarden Euro.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.